Frank Lisson: Hellas als unerreichbare Gegenmoderne

Eine Rezension von Harald Seubert

Frank Lis­son: Hel­las als uner­reich­ba­re Gegen­mo­der­ne. Die Ent­ste­hung des tra­gi­schen Bewußt­seins aus der Grie­chen­sehn­sucht in der deut­schen Alter­tums­wis­sen­schaft zwi­schen 1800 und 1875, Ham­burg: Ver­lag Dr. Kova­cˇ 2013. 364 S., 98.80 €

Frank Lis­sons Dis­ser­ta­ti­on hat sich ein gro­ßes The­ma vor­ge­nom­men, das für Ideen­ge­schich­te und Iden­ti­tät Deutsch­lands zen­tral ist wie kaum ein zwei­tes: die Ori­en­tie­rung an der – vor allem grie­chi­schen – Anti­ke. In einer instruk­ti­ven Ein­lei­tung zeigt er, wie das Land der Sehn­sucht zum Ide­al und kri­ti­schen Instru­ment wur­de, um die ent­frem­den­den Ten­den­zen der Moder­ne zu kri­ti­sie­ren. Damit war aber immer ein tie­fer Skep­ti­zis­mus ver­bun­den, die Fra­ge, ob »die Moder­nen« die anti­ke Welt über­haupt ver­ste­hen wür­den. Ein hilf­rei­cher Über­blick zeigt die Aus­gangs­po­si­tio­nen im 18. Jahr­hun­dert: Es ergibt sich ein wei­tes Spek­trum zwi­schen Johann Gott­fried Her­der und Fried­rich Ast. Beson­ders hilf­reich ist die Durch­sicht durch deutsch­spra­chi­ge Dar­stel­lun­gen der grie­chi­schen Geschich­te und ihre Rezeption.

Das Ver­hält­nis von Anti­ke und Moder­ne wird dann, all­zu sehr an den gän­gi­gen Sche­ma­ta der Dis­kurs­ana­ly­se ori­en­tiert, bei Wil­helm von Hum­boldt und Fried­rich Schle­gel auf­ge­sucht. Hum­boldt zeigt eine gewis­se Ambi­va­lenz: Bei aller Bewun­de­rung gesteht er zu, daß die grie­chi­sche Kul­tur auf einen sehr klei­nen The­men- und Pro­blem­kreis begrenzt sei. Das Stu­di­um der Moder­nen sei fas­zi­nie­ren­der. Schle­gel hin­ge­gen nutzt die Anti­ke-Sehn­sucht zu einer bei­ßen­den Moder­ne­kri­tik. Hier fehlt bei Lis­son die Fra­ge, wie sich die Annä­he­rung an die alt­in­di­schen Zeug­nis­se zu der Grie­chen­sehn­sucht verhält.

Inten­si­ve Stu­di­en zu August Boeckhs For­mel vom »Erken­nen des Erkann­ten« und dem Ver­ständ­nis der Alter­tums­wis­sen­schaf­ten als »leben­di­ge Anschau­ung« seit F. A. Wolf und Win­ckel­mann schlie­ßen sich an. Sie waren auch für Nietz­sches Grie­chen­land­bild eine unum­gäng­li­che Vor­aus­set­zung. Es soll­te beim »Stu­di­um der Alten« kei­nes­wegs nur um Phi­lo­lo­gie, son­dern um die Gewin­nung eines huma­nen Maß­stabs gehen. Dies steht im Kon­text eines Bewußt­seins für den Wer­te­zer­fall und die Ver­häß­li­chung in der Moder­ne. Einen beson­de­ren Fokus legt Lis­son auf die Aneig­nung des Tragischen.

Obwohl neben Nietz­sches Geburt der Tragödie auch Hegels Anti­go­ne-Deu­tung zu Wort kommt, hät­te man sich hier ver­tie­fen­de Über­le­gun­gen zu Höl­der­lin und dem Ver­hält­nis von Eige­nem und »nächs­tem Frem­den« (U. Höl­scher) gewünscht. So facet­ten­reich auch die abschlie­ßen­den Über­le­gun­gen zum Ver­hält­nis von »Kul­tur« und »Zivi­li­sa­ti­on« und zum Unbe­ha­gen an der Demo­kra­tie sind – das aus­ge­hend von Gro­tes Stu­di­en zur atti­schen Demo­kra­tie debat­tiert wur­de –, ‑Lis­son bleibt die Ant­wort auf man­che Fra­gen schul­dig. Ist das Gegen­mo­dell Hel­las abge­lebt oder kann sich an ihm eine »ande­re Moder­ne« (M. Stahl) ent­zün­den? Dies erfor­der­te wei­ter gehen­de Bli­cke ins 20. Jahr­hun­dert, auf Heid­eg­ger und den Geor­ge­kreis. Lis­son hat eine klu­ge, per­spek­ti­ven­rei­che Stu­die auf der Höhe der gegen­wär­ti­gen For­schung vor­ge­legt, die das The­ma aber kei­nes­wegs ausschöpft.

Hel­las als uner­reich­ba­re Gegen­mo­der­ne von Frank Lis­son kann man hier bestel­len.

 

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)