Die Klasse und die Abdankung des Staates

Dieses Jahr lief in einigen kleinen Kinos der Film „Die Klasse“ nach dem gleichnamigen Roman von François Bégaudeau.

Felix Menzel

Felix Menzel ist Chefredakteur des Schülerblogs blauenarzisse.de.

Der Autor ver­ar­bei­tet dar­in sei­ne Erfah­run­gen als Leh­rer in den Pari­ser Pro­blem­vier­teln, den ban­lieues, und schil­dert die eth­ni­schen und sozia­len Bruch­li­ni­en, die durch sei­ne Klas­se ver­lau­fen und ein Ler­nen unmög­lich machen.

Zugleich wird deut­lich, daß der Leh­rer sicht­lich über­for­dert ist und sich immer wie­der von dem bunt zusam­men­ge­wür­fel­ten Schü­ler­hau­fen pro­vo­zie­ren läßt.

Die Lage in den „Pro­blem­vor­städ­ten“ unter beson­de­rer Berück­sich­ti­gung der Schu­le hat Anfang der 90er Jah­re der 2002 ver­stor­be­ne Sozio­lo­ge Pierre Bour­dieu in dem Sam­mel­band Das Elend der Welt beschrie­ben. Er kommt zu dem Ergeb­nis, daß eine neo­li­be­ra­le Wohl­fahrts- und Ver­spre­chenspo­li­tik für die Des­in­te­gra­ti­on jun­ger Migran­ten ver­ant­wort­lich sei.

Weil er eben links ist, miß­ach­tet Bour­dieu dabei die Kate­go­rie „Eigen­ver­ant­wor­tung“ und die Unhin­ter­geh­bar­keit der grund­sätz­li­chen Ver­schie­den­heit der in den ban­lieues leben­den Eth­ni­en (mehr dazu in „Das hier ist Krieg“). Den­noch kann man den mit „Die Abdan­kung des Staa­tes“ über­schrie­be­nen Auf­satz mit Gewinn lesen, weil es Bour­dieu gelingt, der unheil­vol­len Alli­anz aus Libe­ra­lis­mus und Eta­tis­mus, die er Neo­li­be­ra­lis­mus nennt, ihren Schuld­an­teil an der fehl­ge­schla­ge­nen Inte­gra­ti­on und Bil­dungs­mi­se­re nachzuweisen.

Bour­dieu beginnt mit sei­ner Ana­ly­se in den 70er Jah­ren. Die dama­li­ge Woh­nungs­bau­po­li­tik habe die sozia­le Tei­lung in den ban­lieues mate­ria­li­siert, indem der „hohe Staats­adel“ anfing, wie ein Pri­vat­un­ter­neh­mer zu han­deln und die Sozi­al­leis­tun­gen auf „per­so­nen­be­zo­ge­ne Miet­hil­fen“ beschränk­te. Damit habe man den „nie­de­ren Staats­adel“, also z.B. Poli­zei und Leh­rer vor Ort, im Stich gelas­sen und die Idee des öffent­li­chen Diens­tes zer­stört. Bour­dieu deckt damit die per­fi­de Stra­te­gie auf, Men­schen allein mit Geld in eine voll­kom­men neue Gesell­schaft inte­grie­ren zu wol­len, und bün­delt die­sen Gedan­ken in einer tref­fen­den Ver­bild­li­chung: Die rech­te Hand des Staa­tes (Poli­tik) wis­se nicht mehr, was die lin­ke (die „klei­nen“ Beam­ten) macht.

Die­ser Wesens­zug durch­zieht auch die neo­li­be­ra­le Ver­spre­chenspo­li­tik, die ins­be­son­de­re im Bil­dungs­we­sen ver­hee­ren­de Fol­gen hin­ter­las­sen hat. Denn mit dem Mot­to „Jeder kann durch Bil­dung alles schaf­fen“ ver­al­bert der Staat die Unter­schicht und das Klein­bür­ger­tum, indem er Hoff­nun­gen schürt, die im Regel­fall nicht ein­zu­lö­sen sind. Letzt­end­lich sor­ge dies dafür, daß die jun­gen Leu­te aus sozi­al schwä­che­ren Schich­ten län­ger in den staat­li­chen Bil­dungs­ein­rich­tun­gen ver­wei­len und am Ende trotz­dem kei­ne geho­be­ne Dienst­stel­le bekom­men, weil die Ober­schicht im Berufs­le­ben für die bewähr­te Erb­fol­ge sorgt. Der nega­ti­ve Nebeneffekt:

Die Schu­le durch­bricht, indem sie sie (die Her­an­wach­sen­den aus ein­kom­mens­schwa­chen Fami­li­en, Anmerk. FM) pro­vi­so­risch von den pro­duk­ti­ven Tätig­kei­ten fern­hält und der Arbeits­welt ent­zieht, den auf der vor­weg­ge­nom­me­nen Anpas­sung an die beherrsch­ten Posi­tio­nen beru­hen­den „natür­li­chen“ Zyklus der Repro­duk­ti­on der Arbei­ter und drängt sie zur Ableh­nung manu­el­ler Arbeit (und vor allem Fabrik­ar­beit) sowie der Lage der Arbei­ter; die Schu­le drängt sie zur Ableh­nung der ihnen ein­zig zugäng­li­chen Zukunft, ohne ihnen jedoch in irgend­ei­ner Wei­se eine Garan­tie auf die Zukunft zu geben, wel­che sie doch zu ver­spre­chen scheint, auf die defi­ni­tiv zu ver­zich­ten sie ihnen aller­dings über die schick­sal­haf­te Wir­kung ihrer Ver­dik­te beibringt.

Ich möch­te in die­sem Zusam­men­hang noch ein­mal auf mei­ne pro­vo­kan­te For­de­rung nach einer Stär­kung der MINT-Fächer zu spre­chen kom­men: Die­se resul­tiert eben gera­de nicht aus einem neo­li­be­ra­len Bedarfs­den­ken (Was kann der Staat der Wirt­schaft Gutes tun?), son­dern ori­en­tiert sich an den Lebens­chan­cen und fragt danach, wo rea­lis­ti­scher­wei­se der rech­te Platz für die Mas­se der Men­schen ist. Das bedeu­tet im übri­gen aber nicht, daß Tech­ni­ker, Hand­wer­ker oder Natur­wis­sen­schaft­ler kein his­to­ri­sches und lite­ra­ri­sches All­ge­mein­wis­sen ver­mit­telt bekom­men sollten.

Bour­dieus Kri­tik an der neo­li­be­ra­len Wohl­fahrts- und Ver­spre­chenspo­li­tik läßt sich wie folgt zusam­men­fas­sen: Die Abdan­kung des Staa­tes wird offen­sicht­lich, wenn eine Infla­ti­on der Ver­spre­chen des hohen Staats­adels mit einem Ver­fall des nie­de­ren Staats­adels einhergeht.

Was muß man nun dar­aus schluß­fol­gern? Ernst­zu­neh­men­de Poli­tik (im enge­ren Sinn) muß an der Kor­rek­tur die­ses miß­li­chen Ver­hält­nis­ses anset­zen. Sie kann dar­über hin­aus nach der Demon­ta­ge des nie­de­ren Staats­adels nur wenig tun und muß sich zwangs­läu­fig an den Bedürf­nis­sen der Mas­se ori­en­tie­ren. (Erik Leh­nert und Götz Kubit­schek haben die­ses Pro­blem im Zusam­men­hang mit der „Wahr­neh­mungs­eli­te“ aus­führ­lich diskutiert.)

Wir müs­sen uns klar dar­über sein, daß in Zei­ten nach der Abdan­kung des Staa­tes mit poli­ti­schen Mit­teln nur noch Refor­men mög­lich sind, aber kei­ne kom­plet­te Kurs­än­de­rung. Für die­se ist mehr nötig. Die Auf­ga­be von Sezes­sio­nis­ten der Tat muß es des­halb sein, vom Staat unab­hän­gi­ge, neue Insti­tu­tio­nen zu schaffen.

Felix Menzel

Felix Menzel ist Chefredakteur des Schülerblogs blauenarzisse.de.

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