Die Verteidigung des Pontius Pilatus

Es ist wieder Zeit für meinen semi-traditionellen Osterbeitrag für dieses Blog.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

In sei­ner Kolum­ne für die Jun­ge Frei­heit beschrieb der katho­li­sche Publi­zist Mathi­as von Gers­dorff Pon­ti­us Pila­tus als “Pro­to­ty­pen des kor­rup­ten Oppor­tu­nis­ten”. Damit hat er mei­ner beschei­de­nen Ansicht nach dem Pro­ku­ra­tor von Judäa, der den Aus­gang der Pas­si­on Chris­ti ent­schied, ziem­lich unrecht getan.

Gers­dorff hat wäh­rend der Fas­ten­zeit über den römi­schen Statt­hal­ter medi­tiert, um zu ver­ste­hen, “wie es zu sei­nem ver­bre­che­ri­schen Rich­ter­spruch kam.” Sei­ne Inter­pre­ta­ti­on der Vor­gän­ge ist etwa so: Pila­tus erkennt schnell, daß Jesus “Opfer einer Ver­schwö­rung und daher unschul­dig” ist.

Wäh­rend der Unter­hal­tung zeigt Pila­tus Inter­es­se für Jesus und beginnt, sein Herz zu öff­nen. Jesus deu­tet ihm sei­ne Mis­si­on an und sagt ihm, er sei ein König, aber nicht von die­ser Welt. Doch das Gespräch endet ungüns­tig, denn Wider­stand bäumt sich im Her­zen Pila­tus’ auf, als Jesus ihm sagt, er sei gekom­men, Zeug­nis von der Wahr­heit abzu­le­gen. Pila­tus’ berühm­te und fol­gen­schwe­re Ant­wort dar­auf: „Was ist Wahrheit?“

Die­se Infra­ge­stel­lung ist der ent­schei­den­de Wen­de­punkt im Pro­zeß gegen Jesus. Ab die­sem Zeit­punkt ist Pila­tus von Angst erfüllt und nicht mehr pri­mär inter­es­siert, die Wahr­heit her­aus­zu­fin­den und ein gerech­tes Urteil zu fällen. (…)

Nach dem ers­ten Ver­hör geht Pila­tus zu den Klä­gern und stellt fest: „Ich fin­de kei­nen Grund, ihn zu ver­ur­tei­len.“ Pila­tus hät­te Jesus frei­las­sen müs­sen, doch er fürch­te­te sich. So bot er an, den Ver­bre­cher Bar­ra­bas anstatt Jesus hin­rich­ten zu lassen.

Ein selt­sa­mer Lap­sus, der dem Autor hier unter­lau­fen ist: denn Pila­tus bie­tet dem Volk an, Bar­ra­bas anstel­le Jesu frei­zu­las­sen, nicht ihn “hin­rich­ten zu las­sen”. Aller­dings wäre die­se Fas­sung weit­aus logi­scher, denn die besag­te Sze­ne des Neu­en Tes­ta­ments scheint nicht ganz stim­mig zu sein (wes­halb auch ihre his­to­ri­sche Authen­ti­zi­tät oft ange­zwei­felt wur­de): denn der Mob ist doch offen­bar des­we­gen auf­ge­wie­gelt, weil er Jesus gekreu­zigt, und nicht frei­ge­las­sen sehen will.

War­um denkt also Pila­tus, er kön­ne das Volk beru­hi­gen, indem er ihm die Frei­las­sung von Jesus oder Bar­ra­bas anbie­tet? Sieht er dar­in eine Mög­lich­keit, Jesus doch noch zu ret­ten, weil er sich nicht vor­stel­len kann, daß die Men­ge den Schur­ken Bar­ra­bas bevor­zu­gen wür­de? Auch das ergibt nicht so recht Sinn.

Gers­dorff weiter:

Das Ange­bot wur­de abge­lehnt. Immer noch woll­te Pila­tus Jesus frei­las­sen, doch damit die Geg­ner Chris­ti auf ihre Kos­ten kom­men, ord­ne­te er eine Gei­ße­lung an.

Wie wir alle aus dem Film von Mel Gib­son wis­sen oder zu wis­sen glau­ben, han­del­te es sich dabei um eine äußerst grau­sa­me Stra­fe, die wie die Peit­schen­hie­be im heu­ti­gen Sau­di­ara­bi­en zum Tode des Ver­ur­teil­ten füh­ren konn­te. Die Anord­nung die­ser Stra­fe hält Gers­dorff für beson­ders ver­werf­lich und als Aus­weis für den schwa­chen Cha­rak­ter des Prokurators:

Hal­ten wir fest: Pila­tus’ Schwä­che war kein Hin­der­nis, eine sol­che Tor­tur anzu­ord­nen. Ganz im Gegen­teil: Weil er nicht Manns genug war, den Geg­nern Jesu die Stirn zu zei­gen, ord­ne­te er unge­rech­ter­wei­se – aus purer Feig­heit – – eine Fol­ter an.

Der Satz „Was ist Wahr­heit?“ zeigt aber, daß Pila­tus nicht nur schwach war, son­dern auch unfä­hig, sich fes­te Urtei­le zu bil­den. Er war ein Wen­de­hals, der es dem­je­ni­gen Recht tat, der den größ­ten Druck aus­üb­te. Weil er unfä­hig gewor­den war, die Wahr­heit zu erken­nen, war er auch nicht mehr fähig, gerecht zu urtei­len und zu han­deln. Allein die Angst um den Ver­lust sei­nes Pos­tens war die Richt­schnur sei­nes Lebens.

Noch ein­mal ver­sucht Pila­tus, Jesus zu ret­ten, indem er an das Mit­leid der Men­ge appel­liert, und ihr den Gemar­ter­ten vor­führt: “Ecce homo!” – “Seht, welch ein Mensch!” Aber auch das fruch­tet nichts.

Pila­tus’ Vor­ge­hen erzeug­te aber kein Mit­leid, son­dern genau das Gegen­teil. Die For­de­run­gen nach einer Hin­rich­tung wur­den noch hef­ti­ger vor­ge­tra­gen. Der Evan­ge­list berich­tet: „Als Pila­tus das hör­te, wur­de er noch ängstlicher.“

Das Resü­mee Gersdorffs:

Pila­tus gab jeden Wider­stand auf und ver­kün­de­te prompt das ver­bre­che­ri­sche Todes­ur­teil. Sein Ver­hal­ten soll uns eine War­nung sein: Er gab sich in die­ser Situa­ti­on sei­ner Schwä­che hin, weil er nicht zur Bil­dung von Gewiß­hei­ten fähig war. Das mach­te ihn zu einem ängst­li­chen Men­schen, wodurch er zu grau­sa­men und unge­rech­ten Ent­schei­dun­gen imstan­de war. Sein eige­ner Nut­zen war sein Leit­fa­den. Um die­sen zu ver­tei­di­gen, war er zu allem fähig.

Dadurch ist Pila­tus zum Pro­to­typ des kor­rup­ten und eigen­süch­ti­gen Poli­ti­kers gewor­den. Er ist so etwas wie das Vor­bild aller Poli­ti­ker, denen die Wahr­heit und die Gerech­tig­keit egal sind und die sich nur nach Eigen­nutz rich­ten. Er war sogar bereit, abzu­strei­ten, daß es eine Wahr­heit gibt, wenn ihm das nütz­lich erschien: Sol­che Poli­ti­ker sind zu den größ­ten Grau­sam­kei­ten und Unge­rech­tig­kei­ten fähig.

Als ich das las, reg­te sich in mir sofort ein pro­fun­der Wider­spruch. In der Tat zähl­te Pila­tus seit jeher zu mei­nen Lieb­lings­ge­stal­ten in der Bibel. Ich wer­de nun frei­lich nicht so weit gehen wie Nietz­sche, der ihn die “ein­zi­ge Figur” des Neu­en Tes­ta­ments nann­te, “die man ehren muß”:

Der vor­neh­me Hohn eines Römers, vor dem ein unver­schäm­ter Miss­brauch mit dem Wort ‚Wahr­heit‘ getrie­ben wird, hat das neue Tes­ta­ment mit dem ein­zi­gen Wort berei­chert, das Werth hat, — das sei­ne Kri­tik, sei­ne Ver­nich­tung selbst ist: ‚was ist Wahrheit!‘

Unter den vie­len geni­al ver­knapp­ten Sze­nen des Neu­en Tes­ta­ments ist jene, in der das berühm­te Wort “Quid est veri­tas?” fällt, wohl eine der geni­als­ten. Ihr Reiz liegt in der Lako­nik, mit der Pila­tus und mit ihm eine gan­ze Welt des Den­kens und Seins cha­rak­te­ri­siert wird. Ein guter Teil sei­ner Sug­ges­tiv­kraft resul­tiert aus dem gera­de­zu fil­mi­schen Schnitt, mit dem der Ver­fas­ser des Johan­nes-Evan­ge­li­ums zur nächs­ten Sze­ne übergeht.

Nach­dem er das gesagt hat­te, ging er wie­der zu den Juden hin­aus und sag­te zu ihnen: Ich fin­de kei­nen Grund, ihn zu verurteilen.

Ein Effekt, der etwa im apo­kry­phen Niko­de­mus-Evan­ge­li­um deut­lich ver­lo­ren geht, da der Dia­log zwi­schen Jesus und Pila­tus wei­ter­ge­spon­nen wird:

Da erwi­dert ihm Jesus: Die Wahr­heit stammt vom Himmel.Da fragt Pila­tus: Gibt es auf Erden kei­ne Wahr­heit? Da spricht Jesus zu Pilatus:Du siehst doch, wie die, wel­che die Wahr­heit sagen,von den irdi­schen Macht­ha­bern gerich­tet werden.

Zu deut­lich ist hier didak­ti­sche Absicht des Ver­fas­sers, und ein guter Film­cut­ter wür­de sofort spü­ren, wie die Sze­ne immens gewinnt, wenn die Fra­ge offen bleibt – die mit sehr unter­schied­li­cher Beto­nung gespielt wer­den kann.

Erik von Kueh­nelt-Led­dihn, der unse­rem Blog das Mot­to “Right is right, and left is wrong” gab, lieb­te es, Pila­tus als Bei­spiel für den ewi­gen (im schlech­ten Sin­ne) Libe­ra­len hin­zu­stel­len: der Rela­ti­vist und Unent­schlos­se­ne, der nichts von “Wahr­heit” wis­sen will und der, frei nach Dono­so Cor­tès, jede Fra­ge nach ihr mit der For­de­rung nach “Ver­ta­gung des Par­la­ments” umschifft.

Gegen die­se und Gers­dorffs Inter­pre­ta­ti­on lie­ße sich ein­wen­den, daß es nicht die Auf­ga­be des Statt­hal­ters war, über die “Wahr­heit” im welt­an­schau­li­chen Sin­ne zu ent­schie­den. Denn es ging bei sei­ner berühm­ten Fra­ge eben nicht um die “Wahr­heit”, ob Jesus schul­dig oder unschul­dig im Sin­ne der Ankla­ge sei, son­dern um “Wahr­heit” in einem über­grei­fen­den, meta­phy­si­schen Sinne.

Und hier stand er als Reprä­sen­tant des anti­ken Levia­than als ord­nen­de Instanz gegen­über all den jüdi­schen Sek­ten, die ein­an­der im Eifer um die Recht­gläu­big­keit bekämpf­ten. Das ging ihn, so sind sich die Berich­te einig, nichts an. Er hat­te als Römer alles Recht der Welt gegen­über einem wei­te­ren jüdi­schen Pro­phe­ten, der behaup­te­te, um Gott und die Wahr­heit Bescheid zu wis­sen, mit der Schul­ter zu zucken.

“Für den ech­ten Staats­mann”, bemerk­te Speng­ler, “gibt es nur poli­ti­sche Tat­sa­chen, kei­ne poli­ti­schen Wahr­hei­ten. Die berühm­te Fra­ge des Pila­tus ist die eines jeden Tat­sa­chen­menschen.” So gese­hen kann man in Pila­tus auch einen küh­len Kon­ser­va­ti­ven sehen, einen Geh­len der Anti­ke, einen Tech­no­kra­ten, des­sen Gepflo­gen­hei­ten dem Usus sei­ner Zeit ent­spra­chen. “See­len­heil” und “Wahr­heit” sind Din­ge, um die sich zu küm­mern er nicht nötig hat; sei­ne Bestim­mung ist zu herr­schen, gemäß den Ver­sen des Vergil:

Du aber, Römer, geden­ke die Völ­ker der Welt zu beherr­schen. Dar­in liegt dei­ne Kunst, und schaf­fe Gesit­tung und Frie­den. Scho­ne die Unter­worf­nen und rin­ge die Trot­zi­gen nieder.

Hans Blü­her schrieb in sei­nem gewal­ti­gen Werk “Die Aris­tie des Jesus von Naza­reth” (1921):

Pon­ti­us Pila­tus war noch ein ech­ter alter Römer (“die sym­pa­thisch­te Figur des Neu­en Tes­ta­ments”, wie Nietz­sche nicht sehr unbe­grün­det sagt), dem jener see­len­ver­kün­den­de Schwär­mer, den das Volk der Juden ihm pein­li­cher­wei­se zur Abur­tei­lung über­ge­ben hat­te, abson­der­lich vorkam.

Beson­ders pein­lich sei ihm Jesu Satz “Ich bin dazu gebo­ren und in die Welt gekom­men, daß ich für die Wahr­heit zeu­gen soll” gewesen:

Das ist Pila­tus wie­der zuviel; er wen­det sich mit einer ver­ächt­li­chen Hand­be­we­gung ab und sagt die (…) wahr­lich tief­grei­fen­den Wor­te: “Was ist die Wahr­heit…!” Er nimmt ihn [Jesus] schon nicht mehr ernst und läßt ihn ruhig aus­peit­schen und dann kreu­zi­gen, wie das so Römer­sit­te ist. 

In der Tat: aus­peit­schen und kreu­zi­gen, das gehör­te qua­si zur Rou­ti­ne der römi­schen Besat­zungs­macht. Gei­ße­lung und Fol­ter waren etwas “Nor­ma­les”, mit dem jeder zu rech­nen hat­te, der sich der Auto­ri­tät Roms in den Weg stell­te. Pila­tus hat­te vor allem eine Pflicht zu erfül­len, und die lau­te­te schlicht, Unru­hen in Jeru­sa­lem und Judäa zu ver­mei­den, und wenn nötig, nie­der­zu­schla­gen. Von die­sem Gesichts­punkt aus hat er kon­se­quent gehan­delt; es gibt kei­ner­lei Anlaß, ihn als “fei­ge” oder “kor­rupt” zu bezeichnen.

Denn die toben­de Men­ge, ange­heizt von den Pha­ri­sä­ern, droh­te – laut der Erzäh­lung der Evan­ge­lis­ten – außer Kon­trol­le zu gera­ten. Damit war die Lage aller­dings längst von der reli­giö­sen Ebe­ne, die ihn – “Was ist die Wahr­heit und erst recht die Wahr­heit der Juden?”- nichts anging, auf die poli­ti­sche Ebe­ne über­ge­gan­gen, für die er aller­dings zustän­dig war. Und viel­leicht war doch mehr dran an die­ser Rede vom “König der Juden” als ein Reich im Wol­ken­ku­ckucks­heim eines unsicht­ba­ren Gottes.

Pila­tus läßt auf die Tafel schrei­ben: “Jesus von Naza­reth, König der Juden.” Die Pha­ri­sä­er pro­tes­tie­ren, er sol­le schrei­ben: “Der sich aus­gab als König der Juden.” “Quod scrip­si, scrip­si – was ich geschrie­ben habe, habe ich geschrie­ben,” ant­wor­tet Pila­tus, viel­leicht, um den Pha­ri­sä­ern noch eins aus­zu­wi­schen. Viel­leicht hat­te er auch nur kei­ne Lust, die Tafel in drei Spra­chen noch­mal anfer­ti­gen zu lassen.

Nicht nur sei­ne Stel­le, auch der Frie­de im ohne­hin von Auf­stän­den gebeu­tel­ten Land schien Pila­tus also wich­ti­ger als ein när­ri­scher Pro­phet mehr oder weni­ger. Man­che His­to­ri­ker sind der Ansicht, daß Bar­ra­bas und die bei­den “Die­be” zur Lin­ken und Rech­ten des Herrn in Wahr­heit poli­ti­sche Gefan­ge­ne waren, eher Auf­stän­di­sche als Wege­la­ge­rer, oder auch bei­des zusammen.

Der beson­de­re Reiz der im Neu­en Tes­ta­ment über­lie­fer­ten Begeg­nung zwi­schen Jesus und Pila­tus liegt eher in der uner­war­te­ten Irri­ta­ti­on des Pro­ku­ra­tors ange­sichts die­ses selt­sa­men “Königs”, des­sen Reich nicht von die­ser Welt ist, was sich kein Römer vor­stel­len kann. Er gerät ins Zwei­feln und Wan­ken, wie nur ein paar Jahr­hun­der­te spä­ter das römi­sche Kai­ser­reich, ehe es reif zur Über­nah­me durch das Chris­ten­tum wird.

Es soll uns hier nicht beschäf­ti­gen, ob es sich auch tat­säch­lich so zuge­tra­gen hat oder haben kann, oder ob es sich, wie vie­le Wis­sen­schaft­ler behaup­ten, nur um eine nach­träg­li­che Bear­bei­tung der Evan­ge­lis­ten han­delt, um die Römer zu ent- und die Juden zu belas­ten; hier soll es vor allem um die Kraft und den Sinn der Erzäh­lung gehen.

Es pas­siert näm­lich etwas Unge­heu­er­li­ches: die­sen tro­cke­nen und har­ten, heid­nisch-auf­ge­klär­ten Tech­no­kra­ten der Macht scheint also ein Strahl von der Gött­lich­keit Chris­ti zu tref­fen, der durch sei­nen selbst­si­che­ren Pan­zer fährt; so sehr, daß sich sogar so etwas wie ein Gewis­sen und Mit­leid regen. Er hat viel­leicht weni­ger Angst vor den Pha­ri­sä­ern, der Mas­se oder dem Cäsar, als vor dem Geheim­nis des Man­nes, der vor ihm steht. Es geht hier nicht so sehr um Gerech­tig­keit; es geht um die Ahnung einer numi­no­sen Prä­senz, und dies wiegt umso mehr, als sogar ein Mann wie Pila­tus von ihr ange­rührt wird.

In man­chen Ver­sio­nen des Stof­fes scheint Pila­tus dun­kel zu ahnen, daß sei­ne Ent­schei­dung tief­grei­fen­de, erschüt­tern­de Kon­se­quen­zen haben wird – so etwa in der (übri­gens sehr klu­gen) Rock­oper “Jesus Christ Super­star” oder in Gib­sons “The Pas­si­on of the Christ”, wo auch die War­nun­gen sei­ner wahr­träu­men­den Frau Clau­dia, die als eine der frü­hes­ten Kon­ver­ti­tin­nen gilt, eine Rol­le spie­len. Auch dar­um sträubt er sich, Chris­tus zu verurteilen.

Die Gei­ße­lung erscheint in den meis­ten Dra­ma­ti­sie­run­gen des Stof­fes als ein Ver­such, Chris­tus vor der Kreu­zi­gung zu bewah­ren und gleich­zei­tig den Blut­durst der Men­ge zu stil­len. Als dies nichts fruch­tet, wen­det sich Pila­tus ange­wi­dert ab, und gibt dem Pöbel und den Pha­ri­sä­ern, was sie wollen.

Ich habe nie so recht ver­stan­den, wie man gera­de als Gläu­bi­ger im Zusam­men­hang mit der Kreu­zi­gung Jesu von “einem ver­bre­che­ri­schen Rich­ter­spruch” oder einem “poli­ti­schen Ver­bre­chen” spre­chen kann. Wird die gan­ze Erzäh­lung dann nicht zu einem blo­ßen Jus­tiz­kri­mi bana­li­siert, der als Anschau­ungs­bei­spiel für mora­li­sche Empö­rung, etwa über Pila­tus’ Ver­hal­ten, sei­ne “Kor­rup­ti­on” und “Feig­heit” die­nen soll? Die Rede von einem “Ver­bre­chen” klingt ganz so, als sei hier etwas gesche­hen, das nicht gesche­hen hät­te dür­fen, ja das von Rechts­we­gen hät­te unter­bun­den wer­den müssen.

Das Gegen­teil scheint mir der Fall zu sein. Denn offen­bar war die­ses “Ver­bre­chen” durch­aus von Gott als not­wen­di­ges Gesche­hen gewollt, um den Heils­plan zu erfül­len, wor­aus folgt, daß Pila­tus eben­so wie Judas Iska­ri­ot nichts ande­res als ein Werk­zeug der Vor­se­hung war. So auch der Hohe­pries­ter Kaiaphas, der vom Stand­punkt sei­ner geglaub­ten Wahr­heit völ­lig im Recht war, in Jesus einen Got­tes­läs­te­rer zu sehen und dar­um, nach Sit­te der alten Juden, sei­nen Tod zu fordern.

Die ent­spre­chen­den Sze­nen der Evan­ge­li­en zei­gen, daß Jesus kei­nem von ihnen eine Chan­ce ließ, sich die­ser Rol­le zu ent­zie­hen. Jeder Satz, den er vom letz­ten Abend­mahl ab spricht, gleicht einem Schach­zug, der ihn uner­bitt­lich und gezielt ans Kreuz bringt, wo ihm der Opfer­tod für die Sün­den der Men­schen vor­her­be­stimmt ist. Der Kreu­zes­tod ist aber auch die Vor­be­din­gung für die Auf­er­ste­hung, an der sei­ne Gött­lich­keit offen­bar wird.

Wir befin­den uns in der Pas­si­ons­ge­schich­te also nicht mehr in einer Welt aus Moral und Ver­bre­chen, aus Din­gen, die etwa des­halb ein Skan­da­lon sind, weil sie ille­gal und unmo­ra­lisch sind. Wir sind aller­dings auch nicht mehr in der Welt der grie­chi­schen Tra­gö­die, deren Figu­ren oft schuld­los und gegen ihren Wil­len schul­dig wer­den, nichts­des­to­trotz den Preis des Fre­vels zah­len müs­sen. Nein, wir sind im Neu­land des christ­li­chen Mys­te­ri­ums, der “felix cul­pa”, die die Wel­ten der Juden (Gesetz und Moral), der Römer (Jus­tiz und Poli­tik) und der Grie­chen (Tra­gö­die und Schick­sal) auf­hebt und übersteigt.

Der gro­ße öster­rei­chi­sche Schrif­stel­ler Alex­an­der Ler­net-Holenia (1897–1976) hat übri­gens der Ehren­ret­tung des Pila­tus eines sei­ner spä­ten Wer­ke gewid­met. “Pila­tus – Ein Kom­plex” (1967) rollt die Pas­si­ons­ge­schich­te als drei­fach ver­schach­tel­te und mehr­fach dra­ma­tisch über­mal­te Rück­blen­de auf. Der Erzäh­ler, auf der Suche nach einem Got­tes­be­weis, besucht den Olmüt­zer Dom­herrn Dona­ti, der sich als in der his­to­ri­schen Bibel­kri­tik hoch­ver­sier­ter Skep­ti­ker und Zweif­ler erweist, und der ihm eine selt­sa­me Geschich­te aus der Zeit sei­nes Theo­lo­gie­stu­di­ums erzählt.

Damals sei es unter den Stu­den­ten üblich gewe­sen, sich zum Zwe­cke der geis­ti­gen Schär­fung in der voll­stän­di­gen Aneig­nung eines Gegen­stand­punk­tes zur eige­nen Posi­ti­on zu üben. Denn es sei doch so,

…“daß nicht nur Argu­men­te, son­dern auch Gegen­ar­gu­men­te im Fal­le einer jeden sol­chen Aus­ein­an­der­set­zung, die man zuletzt auch in sich sel­ber füh­ren kann, durch­aus berech­tigt sind, denn anders fin­det man die Wahr­heit über­haupt nicht. Auch wir in unse­rem Semi­nar bil­de­ten mit­hin zwei Par­tei­en, denen es nicht gestat­tet war, ihre Stand­punk­te frei zu bezie­hen oder gar zu wech­seln. Sie hat­ten sich viel­mehr an genau fest­ge­leg­te Vor­aus­set­zun­gen zu hal­ten. Die eine Par­tei war die der Gläu­bi­gen und hat­te den Glau­ben zu ver­tei­di­gen, so gut sie nur konn­te, und die and­re, die Par­tei der Zweif­ler oder über­haupt Glau­bens­lo­sen, hat­te die Pflicht, sich wäh­rend der Dau­er des Dis­puts streng auf den Stand­punkt des Unglau­bens zu stel­len und gegen den Glau­ben ins Tref­fen zu füh­ren, was immer sie an Argu­men­ten vor­zu­brin­gen vermochte.”

Um der Fra­ge nach­zu­ge­hen, “ob es Gott gibt oder nicht”, führ­ten die Stu­den­ten eines Abends ein Steg­reif­spiel auf, in dem Dona­ti die Rol­le des nun­mehr pen­sio­nier­ten, ehe­ma­li­gen Pro­ku­ra­tors von Judäa bekam. Pila­tus wur­de als zen­tra­le Figur des Spiels gewählt, weil die­ser die ein­zi­ge Figur des Neu­en Tes­ta­ments sei, die sich ein­wand­frei his­to­risch veri­fi­zie­ren läßt.

In der Ich-Erzäh­lung des Dom­herrs, die den Groß­teil des Buches füllt, ver­schmilzt der eins­ti­ge Dar­stel­ler immer wie­der mit sei­ner dama­li­gen Rol­le. Die Über­gän­ge sind flie­ßend, blen­den inein­an­der über; mal scheint Dona­ti zu spre­chen, ob als Dog­ma­ti­ker oder his­to­risch-kri­ti­scher For­scher, mal der “his­to­ri­sche” Pro­ku­ra­tor a.D. selbst, frei­lich so, wie Dona­ti ihn als Stu­dent gespielt hat.

Die­ser ent­deckt zu sei­ner Ver­blüf­fung, daß er an einem Jahr­zehn­te zurück­lie­gen­den Got­tes­mord schul­dig sein soll, der noch dazu zum Ursprung einer neu­en Reli­gi­on gewor­den ist, der inzwi­schen auch sei­ne Skla­ven und Die­ner ange­hö­ren. Als er beginnt, den Fall auf­zu­rol­len, ent­deckt er ein undurch­dring­li­ches Gewe­be aus Über­lie­fe­run­gen, Legen­den und Mys­ti­fi­ka­tio­nen, das sich längst ver­selbst­stän­digt hat.

Die­ser Pila­tus wird schließ­lich im Lau­fe des Spiels vor ein von Chris­ten ange­führ­tes Tri­bu­nal gestellt, dem­ge­gen­über er bestrei­tet, jemals einen Jesus von Naza­reth gekannt, geschwei­ge denn gekreu­zigt zu haben. Und er stellt sei­ne Fra­ge “Was ist Wahr­heit?” – an die er sich gar nicht mehr erin­nern kann, und die ihm ver­mut­lich vom Evan­ge­lis­ten unter­scho­ben wur­de – ein wei­te­res Mal in Form eines Plädoyers:

“Ist es an dem?” sprach ich näm­lich. “Ist es also an dem? Ihr wollt, ich sol­le zuge­ben, daß ich Gott gese­hen, gespro­chen, ver­ur­teilt habe? Ihr wollt, ich sol­le bezeu­gen, daß Gott wirk­lich sei, daß es ihn wirk­lich gibt? Ja, ihr wür­det sogar wol­len – seid doch offen! -, daß ich die­ses Zeug­nis auch dann ableg­te, wenn ich ihn nie gese­hen, gespro­chen, ver­ur­teilt hät­te? Ihr wollt, selbst um den Preis der Unwahr­heit, die­ses Zeug­nis von mir um jeden Preis, denn die Sache ist euch wich­tig genug, und, bei Gott, was ist da noch Wahrheit! 

Aber nie­mand wird euch der­glei­chen bezeu­gen, und am wenigs­ten wer­de ich selbst es tun. Wenn ihr näm­lich schon an Gott glaubt, so wer­det ihr euch dar­ein schi­cken müs­sen, daß ihr an ihn zu glau­ben habt, obwohl, ja eben weil es ihn nicht gibt. Denn was wäre das für ein Gott, den es gäbe und der sich bewei­sen lie­ße wie die­ser Est­rich hier, die­ses Haus, wie ihr da alle! Nein, ihr Guten, nie­mals wer­de ich ihn euch, nie auch wer­det ihr ihn euch sel­ber bewei­sen kön­nen, da hilft euch kei­ne Gewiß­heit eines Aure­li­us Augus­ti­nus und kei­ne Logik eines Tho­mas von Aquin, ja da hilft euch nicht ein­mal Gott selbst.

Denn er ist nicht die Gewiß­heit, son­dern das Unge­wis­se, nicht die Fol­ge­rich­tig­keit, son­dern das Wun­der, nicht die Sicher­heit, son­dern die Gefahr, nicht das Mög­li­che, son­dern das Unmög­li­che schlecht­hin! Und nie­mals, solan­ge sei­ne Kir­che ste­hen wird, wer­den selbst die Gläu­bigs­ten auf­hö­ren, in den Tie­fen ihrer Her­zen und in ihren geheims­ten Stun­den dar­an zu zwei­feln, daß es ihn gibt.”

Übri­gens wur­de Pon­ti­us Pila­tus in den ers­ten christ­li­chen Jahr­hun­der­ten als Kon­ver­tit oder gar Hei­li­ger betrach­tet; die Kop­ten ver­eh­ren ihn gar als Mär­ty­rer – sein Gedenk­tag ist der 25. Juni.

 

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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Kommentare (31)

Sepp Tember

5. April 2015 12:04

Guten Tag,
vielen Dank für den Beitrag zu Ostern, dem Auferstehungsfest.

Hier ein ebenso bescheidener Kurzbeitrag von mir:
Ich finde es relativ müßig sich bei der Passionsgeschichte Gedanken über die Rolle des Pilatus zu machen. Ob korrupt oder nicht, Pilatus hätte nicht die Macht gehabt Jesus zu kreuzigen, wäre sie ihm nicht von diesem selbst gegeben worden.
Erhellend dazu der Bericht des Matthäus: Als Jesus in der religiösen Verhandlung vor dem Hohen Rat angeklagt wird, gelingt es den Klägern nicht eine entscheidende Aussage für Jesu Verurteilung zu finden. Die entscheidende Aussage, die zu Jesu Verurteilung führte kam von ihm selbst (Kap. 26 V.63-67). Dann steht Jesus vor Pilatus. Hier verzichtet er auf eine Verteidigung, er verweigert nicht einfach die Aussage. (Kap.27,11-14).
Sogar als Christus absolut schwach erscheint, hält er das Heft in der Hand. Kein Hoher Rat, kein Pilatus hätte Christus ohne dessen eigene Zustimmung töten können.

Mit herzlichen Grüßen
Sepp T.

Karl Martell

5. April 2015 13:39

Wie bei so vielen geschichtlichen Ereignissen (oder Legenden), gibt es meistens mehrere Versionen.

Israel Shahak gibt in seinem Buch ”Jewish History, Jewish Religion: The Weight of Three Thousand Years” einen interessanten Überblick über solche Versionen.

Der Talmud behauptet zum Beispiel, daß Jesus’ rechtlicher Vater nicht vom Heiligen Geist gehörnt wurde, sondern von seinem Trauzeugen; daß Jesus empfangen wurde, während seine Mutter menstruierte und daher „unrein“ war; daß er ein sexuell Pervertierter, ein schwarzer Magier und Götzendiener war und daß er in der Hölle in einem Bottich kochender Exkremente bestraft wird.

Der Talmud behauptet auch, daß Jesus vor einem Religionsgericht der Prozeß gemacht wurde wegen Götzendienerei, Anstiftung anderer Juden zum Götzendienst und Widersetzlichkeit gegen religiöse Autoritäten; daß er zum Tod durch Steinigung verurteilt wurde und daß er schließlich gehängt wurde.

Ähnliche Behauptungen findet man in der Toledot Yeshu, die laut Shamir nach der Bibel das verbreitetste jüdische Buch im Mittelalter war. Dort heißt es, daß Jesus das uneheliche Kind von Maria, der Ehefrau eines Parfümherstellers, und eines römischen Soldaten namens Pandera war; daß er nach Ägypten ging, wo er Schwarze Magie lernte; daß er nach Israel zurückkehrte, um die Juden zur Götzendienerei zu verführen; daß er verhaftet und vom Sanhedrin vor Gericht gestellt und zum Tod verurteilt wurde, daß er vierzig Tage lang an den Pranger gestellt und dann gesteinigt und gehängt wurde.

Da bleibt dann für das Kreuz und Pilatus wohl kein Platz mehr.

rautenklause

5. April 2015 14:50

In diesem Zusammenhang auch lesenswert ist "Pontius Pilatus Briefwechsel. Übersetzt, annotiert und eingeleitet von Jörg von Uthmann"-ein schönes historisch-literarisches Verwirrspiel. Uthmann ist leider in Vergesssenheit geraten, seine Artikel in der FAZ waren großartig und sein Werk "Doppelgänger, du bleicher Geselle. Zur Pathologie des deutsch-jüdischen Verhältnisses" von 1976 nach wie vor ein irrlichterndes Buch, das seiner Zeit auch Carl Schmitt in höchsten Tönen lobte (eine erweiterte Neuauflage uswusw ... Herr Kubitschek?!?). Von von Uthmann auch das hier:

https://www.tagesspiegel.de/kultur/wer-ist-schuld-an-golgatha/74550.html

@ Karl Martell

Peter Schäfers "Jesus im Talmud" kennen Sie ja sicher ...

Ostergrüße aus der Rautenklause (etwas erschöpft, da am Morgen Mozarts Krönungsmesse mitaufgeführt)

Carl Sand

5. April 2015 16:32

@Karl Martell

Na, das ist doch interessant, welcher religiösen Toleranz sich diejenigen bedienen, welche sonst als erste mit ihren Zentralräten und Anti-Defamation-Leagues stets Toleranz und Verständnis bei jeder Gelegenheit schreien...

quid est veritas?

Thomas Wawerka

5. April 2015 16:37

Herr Lichtmesz, das ist ein sehr luzider Beitrag (aber welcher Beitrag von Ihnen wär das nicht ...) - den hätte ich, hätt ich ihn eher gelesen, als Predigtmeditation verwendet (vielleicht nächstes Jahr ...).
Die Rolle des Pontius Pilatus in der Passionsgeschichte sehe ich ähnlich wie Sie. Pilatus war ein römischer Adliger, was soll der sich lange mit einem hergelaufenen Propheten aus dem galiläischen Hinterland aufhalten? Er hatte eine Stadt unter Kontrolle zu halten - und gerade bei den großen Wallfahrtsfesten wie dem Passah glich sie einem Pulverfass. Juden aus aller Herren Länder waren anwesend, die Stimmung ständig am Kippen - in den Evangelien wird dieses "Kippen" sehr schön illustriert, das Volk begrüßt Jesus erst mit "Hosianna"-Rufen, ein paar Tage später heißt es "Kreuzige ihn!"
Jesus war auch lange nicht der erste Prophet, Charismatiker, Messiasprätendent, wie immer man es nennen will, mit dem man fertigwerden musste; aus Sicht der Römer spie dieses apokalyptisch vernebelte Volk aller paar Jahre einen neuen aus. Rückten diese dem Ansehen Roms zu nahe (Majestätsbeleidigung) oder gefährdeten die öffentliche Sicherheit, und bei Jesus trifft beides zu, wurde in der Regel kurzer Prozess gemacht. Pilatus hätte für einen solchen nicht einmal ein reguläres Gerichtsverfahren gebraucht (cognitio), da er als Prokurator die Vollmacht hatte, jede Zwangsmaßnahme zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit anzuwenden (coercitio).
Im Falle Jesu scheint es ein formelles Verfahren gegeben zu haben, der Evangelist Johannes, der detaillierter über die Vorgänge in Jerusalem informiert ist als die anderen, erwähnt ausdrücklich, dass Pilatus sich auf seinen Richterstuhl setzte (19,13). Jesus schwiegt, das Schweigen wurde im Verfahren als Geständnis gewertet. Der titulus crucis gibt in drei Sprachen den Grund der Verurteilung an: "König der Juden" (der Gebrauch eines solchen titulus ist auch andernorts belegt). Dies und die Hinrichtung am Kreuz, die für Aufständische vorgesehen war, zeigt, dass Pilatus in Jesus einen Thronräuber gesehen hat - nicht gänzlich unzutreffend, offensichtlich gab es Leute, die Jesus gern zum König gemacht hätten (Joh 6,15).
Allerdings tritt Jesus von vornherein bewusst als "unpolitischer König" auf, der keinen Thron einnehmen will (Einzug in Jerusalem auf einem Esel), sondern als ein geistlicher Führer einen Platz im Tempel. - Aber derartige Spitzfindigkeiten müssen einen Pilatus nicht interessieren, der hat für Ordnung zu sorgen, und wer sich auch nur in den Verdacht begibt, ein Usurpator zu sein, muss mit einer kurzen und harten Reaktion rechnen - Spielraum gibt es da keinen.
Jesus wiederum wusste, was ihm bevorstand - er hätte sich verteidigen können, hat es aber nicht getan. Aus der Sicht des objektiven Historikers vielleicht das größte Rätsel.
Zu Pilatus: Er war für seine Grausamkeit berüchtigt. Lukas notiert einen Vorfall (13,1), Josephus drei und Philo einen, wegen dem Pilatus im Jahre 36 dann auch abgesetzt wurde. Philo notiert als Anklagepunkte "Bestechungen, Beleidigungen, Raub, Gewalttätigkeit, Zügellosigkeit, wiederholte Hinrichtungen ohne juristisches Verfahren, konstante Ausübung von extrem leidvoller Grausamkeit" (Legatio ad Gaium 38). Politisch entlastet werden muss er nicht, in der Causa Jesus verfuhr er nach römischem Recht. Der Versuch der moralischen Entlastung, den besonders Johannes betreibt, lässt sich aus dem Interesse erklären, das Christentum gegenüber Rom in einem freundlichen Licht darzustellen - in einer Zeit, in der die Spannungen zwischen beiden und Druck und Verfolgungswellen zunahmen. (Flavius Josephus hat dieselbe Strategie in "De bello Judaico" und den "Antiquitates" angewandt.)
Abschließend: Dass Jesus es als Teil seiner Mission ansah (und nicht als deren Scheitern), eines gewaltsamen Todes zu sterben, lässt sich exegetisch recht gut belegen. DAS ist nun wahrlich neu: Wie kommt er auf diesen Gedanken? Man muss dazu auf Spurensuche im Alten Testament gehen, besonders die sog. "Gottesknechtslieder", vor allem Jes 52,13-53,12 müssen zentrale Passagen gewesen sein, durch die sich das Bewusstsein Jesu formte.

Thomas Wawerka

5. April 2015 17:15

Nachtrag: Der Verdacht, dass Pilatus eine rein pragmatische Entscheidung fällte, lässt sich allerdings nicht ganz von der Hand weisen. Er war in einer vielleicht doch nicht ganz so trivialen Zwangslage. Immerhin gab es auch genügend Anhänger Jesu, die seinen Tod unter Umständen als Rechtfertigung für einen Aufstand benutzt hätten. Jesus selbst bemerkt bei seiner Verhaftung sinngemäß: "Ich war alle Tage im Tempel und habe gelehrt, da habt ihr nicht gewagt, Hand an mich zu legen, nur im Schutz der Nacht traut ihr euch das." (Höre nur ich da einen sarkastischen Unterton?)
Und vor Pilatus: "Wäre mein Reich von dieser Welt, hätten meine Gefolgsleute zu den Waffen gegriffen, um mich zu verteidigen."
Ein solcher Aufstand schien eine reale Option gewesen zu sein, immerhin greift Petrus zum Schwert und haut einem Mann der Tempelwache namens Malchus ein Ohr ab. - Jesus schafft es, die Situation zu klären.
Auf der anderen Seite die erregte und empörte Volksmenge, die Jesus tot sehen will. Pilatus muss sich die Frage gestellt haben, welche Seite eher durchdreht. Insoweit ist es nicht übertrieben zu sagen, dass er auf die Kooperation Jesu angewiesen war. Jesus war nicht bloß Unterlegener, Opfer - er hat seine Passion mit herbeigeführt.
Sehr spannend.
Und dann ist er auferstanden: Noch viel spannender!
Ein fröhliches und gesegnetes Osterfest euch allen da draußen!

M.L.: Danke für die sehr interessanten Ausführungen und Ergänzungen!

Weltversteher

5. April 2015 18:48

Die Äußerungen Gersdorffs (soweit sie hier zu lesen sind) erinnern mich an die Verlautbarungen der Bundeszentrale für politische Bildung. So nutzlos, so anmaßend.
Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet! - Es ist noch gar keine tiefe Einsicht nötig, hier so zu denken, sondern nur die gebotene Zurückhaltung.

Klaus

5. April 2015 19:20

Interessant die Bemerkungen zu den Rollenspielen des Domherrs Donati: Gott lässt sich wirklich nicht feststellen in der Sicherheit wie wir die Summe von Zwei und Zwei als Vier sichern. Es braucht den Glauben, ja, den Kinderglauben meinetwegen (Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder…). Dieser Glaube ist aber niemals gegen die Vernunft, sondern führt über sie hinaus. Diese Einsicht können Gottesbeweise erbringen.
ER hätte es auch anders einrichten können. ER will aber ausdrücklich ein Deus absconditus, ein abwesender Gott sein. Der, den wir lieben sollen, ist abwesend – etwas lieben, was in einem gewissen Sinne nicht ist. Durch diese Unmöglichkeit hindurch muss unsere Liebe bis sie rein ist, bis sie liebt, ohne einen Lohn dafür zu erwarten. Auch die Liebe zu unseren Verstorbenen ist von dieser Art.

Martin

5. April 2015 19:41

Nur nicht um den heißen Brei herum reden:

Bei der Passionsgeschichte geht es immer gerade auch darum, dass Gottes auserwähltes Volk den Sohn Gottes, den verheißenen Messias nicht akzeptiert hat und letztlich ans Kreuz geliefert hat und dass eben dadurch gerade die "Heiden" diejenigen sind, denen das Heil damit zu teil wird obwohl sie eben nicht Gottes auserwähltes Volk sind. Pontius Pilatus spielt da doch eher die Rolle des Werkzeugs, des Staates, wie er eben agiert. Und wie Sepp Tember weiter oben geschrieben hat, geschah dies alles im Rahmen eines größeren Heilsplans, der den Juden eben auch ihren Teil zugewiesen hat. Ich schreibe hier ferner bestimmt nichts Neues, wenn ich darauf hinweise, dass ein sehr großer Teil des neuen Testaments auf Basis des alten und dessen Propheten bzw. der Erfüllung dieser Prophezeiungen hin zielt - dazu gehört auch die Rolle des jüdischen Volkes bei der Passion Christi.

Sich auf Pontius Pilatus zu kaprizieren ist genau so zu kurz gegriffen, wie den Juden die Schuld einseitig zuzuweisen bzw. in diesem Zusammenhang überhaupt von Schuld zu besprechen. Es geht hier um ein kosmisches Heilsgeschehen, dies ergibt sich auch aus dem altem Testament, an dem die Juden am Anfang stehen und dann erst wieder am Ende.

Der Artikel in der JF von Gersdorff ist ziemlich dämlich, Pilatus wird in der Bibel gänzlich anders beschrieben. Mich dünkt, der Herr hat Angst, die Medaille ganz zu betrachten und da gehört das "Kreuzige ihn" (Lukas, 23, 21) des jüdischen Klerus und Mobs eben ganz klar dazu, mag es heute einem noch so politisch unkorrekt oder peinlich erscheinen wie es will - es gehört dazu und der Autor der JF drückt sich recht eindeutig davor.

Simon

5. April 2015 20:16

Man muss immer im Hinterkopfbehalten, dass es extrem schwer ist anhand der Evangelien zu rekonstruieren, was damals wirklich geschah. Die Evangelien sind vierzig bis siebzig Jahre nach den Ereignissen entstanden und zwar zu einer Zeit als die Römer gerade dabei waren die jüdischen Aufstände nieder zu schlagen und die Christen versuchten sich in Rom zu etablieren. Das heißt, es gab gute Gründe dafür, die ERzählung von allem "Jüdischen" zu säubern. Statt dessen wurde das Neue Testament mit hellenischem Gedankengut aufgeladen.

Der reale Jesus hat sich mit großer Wahrscheinlichkeit nie für den Sohn Gottes gehalten oder wäre auf die Idee gekommen zu glauben, dass seine Mutter ihn als Jungfrau geboren hat, oder dass es eine unsterbliche Seele direkt in den Himmel auffährt. Die ganze Idee eines "Christus", der Trennung des Reiches Gottes und des Kaisers, der Erlösung der Seele und die ganze Dreifaltigkeitsproblematik waren dem jüdischen Denken dieser Zeit völlig fremd. Der Messias war nach jüdischer Vorstellung ein Mensch aus Fleisch und Blut der die Juden von der Fremdherrschaft befreit.

Wäre Jesus 200 Jahre später tatsächlich auferstanden und hätte die theologischen Debatten in der Zeit von Konstantin verfolgt, hätte er deren Inhalt gar nicht begriffen.

Carl Sand

5. April 2015 20:57

Ja, der Posten des Statthalters in Judäa dürfte von ähnlicher Beliebtheit gewesen sein wie Kommandant einer Radarbasis in der Antarktis. Wichtig, Karrieresprungbrett, wenns klappt, aber mieser Job.

Insofern ist es gerade besonders hervorzuheben, dass Pilatus Jesus nicht einfach entnervt entrübt hat.

Und sein "Ach, was ist schon Wahrheit" ist so modern wie kaum etwas.

Lepidus

5. April 2015 22:29

Quid est veritas? Die Frage, was Wahrheit sei, ist, zumindest für Leute, die wirklich wissen und nicht nur "glauben" wollen, im Zusammenhang mit dem Christentum betrachtet, an erster Stelle wohl diejenige nach der Historizität und wahren Identität seiner zentralen Figur Jesus Christus. Die zunehmende Krise des Christentums dürfte – neben der himmelschreienden Korruption im Vatikan – sicherlich nicht zuletzt der Tatsache geschuldet sein, daß die Geschichten um Jesus, wie sie im Evangelium beschrieben werden, in der modernen Welt immer weniger (jungen) Leuten glaubhaft gemacht werden können bzw. ernst genommen werden. Die Hauptcrux scheint aber zu sein, daß sich ein historischer Jesus als Stifter der (noch) größten Weltreligion im Palästina des ersten Jahrhunderts einfach nicht finden läßt. Es wird daher über Jesus viel zusammengesponnen ...
"Die einen machen ihn zu einem Revolutionär, die anderen zu einem Nationalheld, die einen zu einem Macho, die anderen zu einem Feministen, sogar zu einer Frau wurde er gemacht. Und die einen lassen ihn nach Tibet gehen, die anderen nach Ägypten ... Es gilt wirklich: Do it yourself, Jesus zum Selbstbasteln. Das hat eine Ursache, das heißt, diese modernen Jesusbilder wachsen auf dem Mist des Offenbarungseids der Leben-Jesu-Forschung. Denn die sogenannte wissenschaftliche Theologie, obwohl sie seit mehreren hundert Jahren daran arbeitet, hat keinen historischen Jesus liefern können ..." Francesco Carotta, Radiointerview in "SWR1 Leute", 3. 1. 2000

Nun meint Carotta seit gut zwanzig Jahren den wahren historischen Jesus gefunden zu haben, und wenn man seine Bücher aufmerksam und ohne (Glaubens- oder Ideologie-)Brille liest, erscheint dies höchst wahrscheinlich.
Angenommen, Carotta habe recht und seine Aufdeckung sei wahr, daß der historische Jesus Gaius Julius Caesar (dessen Hagiographie im Zuge einer diegetischen Transposition neugeschrieben wurde) und somit keine Jude, sondern Römer war, was würde das ändern? Diese Frage sollten sich nicht zuletzt alle (ehemaligen) Christen, die ja – noch – die Mehrheit bilden in diesem Lande, stellen. Vielleicht wäre dann auch eine Antwort zu finden, die einen Fortbestand des Eigenen, des Abendlandes gegen einen immer vitaler werdenden Islam gewährleisten könnte.

Frohe Ostern

M.L.: Das hatten wir hier schon einmal. Ich finde Carottas Theorie eher skurril, und noch skurriler sein Selbstbewußtsein, mit der er sie vertritt. Der Mann hat selbst eine fette "Brille" auf der Nase sitzen, und das obige Zitat läßt sich leicht auch auf ihn selbst münzen. Aber selbst wenn er recht hätte, würde das für das Noch-Abendland keinerlei Bedeutung oder Folgen haben. Christus und Cäsar bleiben nunmal grundverschiedene Gestalten, wie sie antipodischer nicht sein könnten. Und, um im Bild dieser Theorie zu bleiben, die "Transposition", nicht die "hagiographische" Vorlage ist es nunmal, die die Herzen und Seelen der Menschen ergriffen und verändert hat.

Zadok Allen

5. April 2015 22:36

Eine wohl abgewogene, glänzende kleine Diatribe, Herr Lichtmesz. Besonders löblich, daß Sie die Komplexität, Lakonik und höhere Ironie der evangelistischen Berichte vom Verfahren Jesu deutlich herausstreichen.

Es passiert nämlich etwas Ungeheuerliches: diesen trockenen und harten, heidnisch-aufgeklärten Technokraten der Macht scheint also ein Strahl von der Göttlichkeit Christi zu treffen, der durch seinen selbstsicheren Panzer fährt; so sehr, daß sich sogar so etwas wie ein Gewissen und Mitleid regen. Er hat vielleicht weniger Angst vor den Pharisäern, der Masse oder dem Cäsar, als vor dem Geheimnis des Mannes, der vor ihm steht. Es geht hier nicht so sehr um Gerechtigkeit; es geht um die Ahnung einer numinosen Präsenz, und dies wiegt umso mehr, als sogar ein Mann wie Pilatus von ihr angerührt wird.

Ein gewichtiger Grund für diese Sicht der Dinge, die ich teile, eröffnet sich in der Konfrontation der Frage des Pilatus, des ausgeglühten Augustäers, mit dem Herrenwort Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben: es geht nicht um Wahrheit als Eigenschaft von Sachverhalten, die in Rede stehende Wahrheit ist personhaft! Pilatus hätte fragen müssen: "Wer ist Wahrheit?"

Daß er das nicht vermochte, versteht sich von selbst. Die Ungeheuerlichkeit der von Johannes überlieferten Herrenworte wird viel zu selten gesehen: sie sind eines der wichtigsten objektiven Indizien für den metaphysischen Rang des Christentums. Solche Worte kann man auch nicht am Schreibtisch "erfinden". Wäre ihre Quelle nicht Jesus, so hätten wir es mit der wohl bedeutendsten anonymen Figur der Weltgeschichte zu tun.

Am schönsten finde ich die betreffenden Abgründe des Evangeliums filmisch in der Tat bei Gibson eingefangen, obgleich das dort gesprochene Latein vom Standpunkt der historischen Phonetik auf indiskutable Weise umgesetzt wurde.

Sie hätten auch noch an Bulgakows bemerkenswerte Adaption der Pilatus-Figur erinnern können, die, obwohl sie am Ende doch eher auf eine antitotalitäre Parabel hinausläuft, ebenfalls von einer ins Fleisch schneidenden Doppelbödigkeit ist.

M.L.: Ja, die Bearbeitung von Bulgakow ist auch grandios.

Findling

5. April 2015 22:40

Kleines Requiem für Martin H. in 3 Akten: Frau Pontia und ihr Knecht Buhmann

Akt I „Er hat das Gute gelästert“, rief ein Hoher Priester und zerriss seinen Kittel. „Er muss aufs Rad!“
Schon krawallte die Truppe vor das Prätorium. Kopf an Kopf, dicht gepackt, die Schlünder aufgerissen wie Piranjas: Auf´s Rad mit ihm! Auch ein Protestant tanzte wie ein Korken obenauf . So kann hohe Geistlichkeit zu Fall kommen ohne den Boden je berührt zu haben.
Frau Pontia raffte ihre Toga und trat hinaus. „Für Euch lass` ich ihn mal auspeitschen“, verkündete sie sogleich und riss ein bisschen an ihrer Bluse herum.
Dann ging sie wieder ins Büro. Aber die Masse tobte wilder denn je. Das Springermädchen trat ins BILD und hämmerte mit ihrem Stöckelschuh gegen das Tor der Pontia schlimmer als einstens Chrutschow auf das Pult der Vereinten Nationen 1961. Frau Pontia musste erneut vortreten. Die Knie wurden ihr weich. Es ging um alles. „Jetzt erkenne ich! Er hat nicht genug bereut. Euer Wille sei mir Befehl! Er muss auf`s Rad“.
Der Buhmann wurde gerädert, sie später gekanzlert.

Akt II Entfallen, um meinen Mainzer Bischof an Ostern zu schonen. (Nicht jeder hat ein Gesicht hart wie Kiesel und lässt sich den Bart reißen. Sein Gesicht ist eben weich wie Lehm.)

Akt III Der Obersoldat Strick fürchtet unter „friendley fire“ zu geraten. Nur schnelles Handeln schien seine Haut retten zu können: „Grünzel auf die Straße, sofort!“, kommandierte er.
Seither weiß jeder Offizier, wie es um die Treue seiner Oberen bestellt ist. (Die Umbenennung einer Fliegerkaserne von Mölders zu Churchill entwuchs dem gleichen Weichholz. Da könnte die letzte Berliner Jungfrauenkongregation auch Josef Stalin zu ihrem Schutzpatron ausrufen.)

M.L.: Und ich dachte zuerst an Martin Heidegger... na, zuviel der Ehre für Herrn H.

jack

5. April 2015 23:02

Ich schreibe hier ferner bestimmt nichts Neues, wenn ich darauf hinweise, dass ein sehr großer Teil des neuen Testaments auf Basis des alten und dessen Propheten bzw. der Erfüllung dieser Prophezeiungen hin zielt – dazu gehört auch die Rolle des jüdischen Volkes bei der Passion Christi.

Die Pharisäer hatten die Judäer gelehrt, einen Messias zu erwarten. Dies bedeutete, dass der wirkliche Messias noch erscheinen musste. Nach den Pharisäern stand die Ankunft des Königs aus dem Hause Davids, der seinem Volk die Weltherrschaft bescheren würde, noch bevor, und hieran hat sich bis heute nichts geändert.
Es ist richtig, dass im Alten Testament einige Male auf das Erscheinen eines Messias Bezug genommen wird.

Die Bibel ist aufgeteilt in Altes und Neues Testament und die Apokryphen, welche älter sind als das Neue Testament.

Das Neue Testament konzentriert sich auf die Lehre, die Leiden und die Auferstehung Jesus Christus. Die vier Evangelien auf der einen Seite und die Missionsreisen bzw. die Missionstätigkeit von Paulus (Paulusbriefe und Apostelgeschichte). Soweit bekannt ist, wurde das ganze Neue Testament in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts n.Chr. in griechischer Sprache abgefasst. Die geschilderten Ereignisse spielten sich alle in einem einzigen Jahrhundert ab.

Das Alte Testament ist nicht nur wesentlich umfangreicher, sondern auch vielfältiger.

Das Alte Testament umfasst eine große Zeitspanne, aber nur eine relativ kleine Bevölkerungsgruppe. Die Zeitspanne umfasst ohne mythische Überlieferungen fast 2000 Jahre.
Das Alte Testamemt erzählt die Geschichte eines einzigen Volkes. Dieses Volk zog vom unteren Euphrat in die Gegend des Mittelmeeres, gab diese Gebiete wieder auf und zog weiter nach Ägypten, wo es ihm über einige Jahrhunderte gut ging und anschliessend schlecht, so dass es zu einem Massendexodus aufbrach, um das verlorene Land, dass zum verheissenen wurde, zurückzugewinnen. Nachdem eine Generation durch Entbehrungen gegangen war und nachdem die Völker, die es im verheissenen Land vorfand, besiegt aber nicht ausgelöscht wurden, gelang dem Volk die Zurückgewinnung des verheissenen Landes.

Das Alte Testament erzählt weiter, wie dieses Volk nach einer Periode des Wohlergehens die Königreiche David und Salomos schuf, dann innerem Streit und mächtigeren Reichen zum Opfer fiel, wie es fast von der Bühne der Geschichte verschwand, als die eine Hälfte Assyriens vernichtet wurde, die andere Hälfte aus dem babylonischen Exil zurückkehrte; wo wohl auch der Babylonische Talmud entstanden war, wie es eine Religion schuf, die von den Propheten mit grundlegenden ethischen und sozialen Werten ausgestattet wurde, und wie es damit ohne politische Selbstständigkeit (ausgenomen die hundert Jahre Priesterherrschaft der Makkabäer) seine Identität als Volk und Religionsgemeinschaft bewahrt hat.

Die im Alten Testament erzählten Geschichten handeln vom Auf und Ab dieses Volkes. Traditionen halten ein Volk am Leben. In guten Zeiten geben Traditionen Kraft und in schlechten Zeiten geben sie Zuversicht, Trost und Hoffnung.

Das Alte Testament wurde zum grossen Teil während des Niedergangs der Königreiche nach Salomo, während des babylonischen Exils oder kurz danach verfasst. Aus diesen Schriften besteht das Alte Testament.

Eingeflossen sind sakrale und volkstümliche Legenden, Chroniken, Lieder und Erzählungen viel älteren Ursprungs. Das Alte Testament ist kein einheitliches Werk, vielmehr ein Sammelband, der aus drei Teilen besteht. Aus dem Gesetz, den Propheten und den sogenannten Schriften. Das Gesetz, hebräisch die Thora, bestand aus den ersten fünf Büchern oder dem Pentateuch (griechisch: Fünfrollenbuch). Diese fünf Bücher wurden Moses zugeschrieben und an den Anfang der hebräischen Bibel gesetzt. (Einige Forscher sind der Ansicht, dass es sich um ein Werk mit mehreren Autoren handeln muss.)

Das früheste bekannte Ereignis in der Geschichte des Gesetzes geschah im Jahr 621 v.Chr.. Während der Herrschaft des Königs Joschija von Juda wurden am Tempel in Jerusalem Schriften gefunden, bei denen es sich offenbar um das Deuteronomium handelte. Der König Joschija setzte aus Begeisterung eine nach dem babylonischen Exil von Esra und Nehemia noch vorangetriebene Entwicklung in Gang, die das vermeintliche mosaische Gesetz zu einer Verfassung für die Herrschaft von Priesterkönigen werden lies.

Das Deuteronomium ist monotheistisch und damit in diesem Punkt eindeutiger als andere bekannte Dokument früheren Datums. Die Propheten wurden fast verehrt wie das Gesetz. Unter den Propheten versteht man Jesaja, Jeremia, Ezechiel, sowie eine Gruppe von zwölf Propheten, Amos ist der früheste. Die Gruppe der „kleinen Propheten“ war im alten Testament in einem Buch zusammengefasst, bis sie aufgeteilt wurden in einzelne Bücher. Die Propheten lebten im 8. bis zum 6. Jahrhundert v.Chr.; die Bücher, die ihren Namen tragen erhielten ihre heutige Form um 200 v.Chr.

Neben dem religiösen Inhalt sind sie auch eine wichtige Ergänzung zum historischen Teil des Alten Testaments, den Büchern Josua, Richter, Samuel 1 und 2 und Könige 1 und 2. Sie umfassen den Zeitraum von 1200 bis 586 v.Chr. und wurden im 6. Jahrhundert v.Chr.in die heute bekannte Form gebracht.

Der dritte Teil des Alten Testaments beinhaltet die Psalmen, die eine, dem König David zugeschriebene Sammlung von Liedern sind. (Tatsächlich stammen sie aber aus weiter auseinanderliegenden Epochen, 8. bis 2 Jahrhundert v.Chr.)

Eine Gruppe von Büchern, von denen einige zu den Apokryphen gerechnet werden, lässt sich unter dem Oberbegriff der Weisheitsbücher zusammenfassen. Viele von ihnen wurden Samuel zugeschrieben und stammen aus dem 3. Jahrhundert v.Chr., so die Bücher Sprichwörter, Sirach, Weisheit, Ijob. Einfache Geschichten wie Rut, Ester, Tobit und Daniel gehören dazu, aber auch wichtigere Bücher wie Kohelet, die Klagelieder und als lyrisches Zwischenspiel, das Hohelied.

Dann sind in dieser Gruppe noch vier spätere Bücher, die die Auffassung der Priester darüber, wie alles war und wie es sein sollte, bestätigen: Chronik 1 und 2, Esra, Nehemia. Gerade diese Bücher verleihen dem Alten Testament seine charakteristische Eigenart.

Als Apokryphen (griechisch: verborgene Schriften) bezeichnete man Schriften, deren Kenntnis den Mitgliedern einer geheimen Vereinigung oder Sekte vorbehalten war.

Im Christentum wurde der Begriff für biblische Schriften gebräuchlich, die weder in diesem noch in irgendeinem anderen Sinn geheim waren, sondern vielmehr zweifelhaft oder zweitrangig.

Heute wird der Begriff für zwei verschiedene Gruppen von Schriften verwendet.

Die erste Gruppe umfasst jene Bücher, die nicht Bestandteil des hebräischen Alten Testaments waren, sondern erst in der Septuaginta, also in die in vorchristlicher Zeit angefertigte griechische Übersetzung des hebräischen Alten Testaments aufgenommen wurden.

Als Bestandteil der Septuaginta wurden sie, trotz Vorbehalten von Theologen, immer wieder in christliche Bibeln aufgenommen.

Die zweite Gruppe von Schriften, für die der Begriff Apokryphen verwendet wird, ist erheblich größer. Sie umfasst etwa 40 Bücher oder Teile von Büchern, die sich auf das Alte Testament beziehen, und eine grössere Zahl von Evangelien, Briefen und Apostelgeschichten, die das Neue Testament betreffen.

Zu den Aprokryphen des Alten Testaments bzw. den deuterokanonischen Büchern gehören: Tobit, Judit, Zusätze zu Ester, Weisheit, Sirach, Baruch mit dem Brief Jeremias, Zusätze zu Daniel, Makkabäer 1 und 2.

Martin Luther hat als "Junker Jörg" zuerst das Neue Testament in die deutsche Sprache übersetzt. Anschliessend das Alte Testament, obwohl dieses, bis auf divers auslegbare Prophezeiungen keinen direkten Bezug zum Christentum bzw. Jesus Christus, hat.

Zu Jesus Lebenszeit gab es das Wort "Jude", das neueren Ursprungs ist, nicht und es ist mit dem zur Zeit Jesus verwendeten aramäischen, griechischen oder lateinischen Worten für die „Judäer“ nicht gleichzusetzen.

Wenn die Behauptung „Jesus war Jude“ Sinn haben soll, muss man die Kriterien dazu aus Jesus Zeit zugrunde legen, und danach musste Jesus , um Jude zu sein, eine von drei Bedingungen erfüllen: 1) Er musste Angehöriger des Stammes Juda sein; 2) Er musste Seinen Wohnsitz in Judäa haben; 3) Er musste Seinem Glauben nach ein „Jude“ sein, falls es die Religion in der Form vor 2000 Jahren gab.

Der Stammbaum seiner Mutter, Marias, ist im Neuen Testament unerwähnt. Es gibt drei Stellen, die eventuell andeuten könnten, dass Maria aus dem Hause Davids stammte. Bei Matthäus 1, 20 nennt der Engel Joseph den „ Sohn Davids “, bei Lukas 1,27 steht, dass die Jungfrau Maria „ vertraut war einem Manne mit Namen Joseph, aus dem Hause David “, aber Joseph war nicht Jesus leiblicher Vater.

Jesus Geburtsort war Bethlehem (Matthäus 2; 1), doch es ist nicht ausgeschlossen, dass sich Maria von Galiläa dorthin begeben hatte, um sich registrieren zu lassen. Dazu wendeten einige jüdische Gelehrte ein, der Hinweis auf Bethlehem sei nachträglich erfolgt, um alttestamentarischen Prophezeiungen gerecht zu werden: „Und du, Bethlehem Ephratha, die du klein bist unter den Städten in Juda, aus dir soll der kommen, der in Israel Herr sei...“ (Micha 5,1.)

Die Jewish Encyclopedia sagte dazu, die Heimatstadt Jesus sei Nazareth gewesen, und man ist sich darüber einig, dass Jesus Galiläer war, gleichgültig wo er geboren wurde. Galiläa, wo Jesus fast sein ganzes Leben verbrachte, war zu damaliger Zeit politisch völlig von Juda getrennt und einem eigenen römischen Tetrarchen unterstellt. Juda galt als „fremdes Land“.
(so Heinrich Graetz in seinem 1888 erschienenen Werk Volksthümliche Geschichte der Juden).

Michael Schlenger

6. April 2015 00:38

Herr Lichtmesz, danke für diesen wie stets lesens- und bedenkenswerten Beitrag aus Ihrer Feder.

Allerdings regt sich bei mir Widerspruch. Denn zunächst schreiben Sie:

"Es soll uns hier nicht beschäftigen, ob es sich auch tatsächlich so zugetragen hat (...), oder ob es sich, (...), nur um eine nachträgliche Bearbeitung der Evangelisten handelt (...)

Kurz danach stellen Sie apodiktisch fest:

"Es passiert nämlich etwas Ungeheuerliches: diesen (...) heidnisch-aufgeklärten Technokraten der Macht scheint also ein Strahl von der Göttlichkeit Christi zu treffen, (...) es geht um die Ahnung einer numinosen Präsenz, (...).

Sie nehmen also entgegen Ihrer ersten Aussage die Behauptung der Verfasser, Bearbeiter und Verbreiter der maßgeblichen Evangelien für bare Münze. Ich frage mich, warum dieser abrupte Wechsel der Perspektive?

M.L.: Habe ich doch oben geschrieben, ich will mich nur mit dem Inhalt und der Kraft der Erzählung selbst befassen, ohne die Frage nach ihrer Authentizität zu stellen. Meine Perspektive bleibt also dieselbe.

Sicher: Es wird sich bei den frühchristlichen Propagandisten um kluge Köpfe gehandelt haben, sie waren wohl vertraut mit der griechisch-römischen Rhetorik und vermochten so ein glaubwürdiges Bild des römischen Statthalters zu ziehen. Damit zielten Sie möglicherweise nicht auf die lokale jüdische Bevölkerung ab, die das Auftreten charismatischer Wanderprediger gewohnt war. Vielmehr war ihre Zielgruppe weiter gefasst: Nicht-jüdische, halbwegs gebildete Sinnsucher im römischen Imperium, denen die traditionelle Religion zu wenig trostreich und die kategorische Strenge der Philosophie zu ernüchternd erschien.

Konsensfähig ist aber m.E. letztlich nur: Das Neue Testament ist - wie übrigens der es in Teilen paraphrasierende Koran auch - erkennbar Produkt von Menschen, die auf maximale Glaubwürdigkeit ihrer Weltanschauung bei einer bestimmten Auswahl ihrer Zeitgenossen hatten. Das dürfen wir einige Jahrhunderte später mit derselben Distanz betrachten, wie das bei anderen antiken Texten angebracht scheint.

Aus der bloßen Raffinesse der Darstellung Rückschlüsse auf den Wahrheitsgehalt zu ziehen, erscheint mir ebenso fragwürdig, wie aus der Schönheit Bach'scher Kantaten auf die universelle Gültigkeit des jeweiligen Textes zu schließen.

Ich betrachte die christliche Überlieferung durchaus wohlwollend, sehe sie aber letzlich nur als einen von vielen subjektiven Würfen ins Unergründliche. Und so halte ich es gerne weiterhin mit der konservativ-skeptischen Position:

"Über die Götter wissen wir nichts - weder, dass es sie gibt, noch dass es sie nicht gibt."

Czernitz

6. April 2015 09:10

Noch eine Variante. Am 18. Dezember 2009 bot die FAZ wieder einmal einem Funktionär der Anbeter eines gewissen Gottes die Bühne, diesmal Herrn Raphael Gross. Herr Gross bezieht sich auf Hans Kelsen. Demnach hätte Pilatus die Hinrichtung Jesu abhängig gemacht von einer Volksabstimmung. Pilatus hätte nach römisch-demokratischer Tradition gehandelt ... Jan Assmann nennt das Phänomen, das die mosaische Religion ermöglichte, die normative Inversion. Bereits mehr als ein Jahrhundert zuvor hatte Nietzsche der jahwistischen Priesterschaft die Umwertung aller Werte nachgewiesen und die Verbreitung tiefster Ressentiments. Über das Christentum gelangten sie alle Welt. Der Funktionär Raphael Gross, ein Schweizer, fährt nun fort mit der Umwertung aller Werte. Dem Mob, der vor dem Prätorium des Pilatus für die Hinrichtung eines Wanderpredigers tobt, bescheingt er demokratisches Verhalten. Den Schweizern, die gegen Minarette votieren, bescheinigt er Antidemokratismus. Um dem Islam die Steigbügel zu halten? Was ist denn der Islam anderes als ein auf die Spitze getriebener Jahwismus!

Michael Kanther

6. April 2015 09:53

@Findling

Benennung einer Luftwaffen-Kaserne nach Churchill: Ist das wirklich geschehen? Ich bin sprachlos.

Peter Voit

6. April 2015 11:08

Er habe nie so recht verstanden, schreibt Herr Lichtmesz, wie man gerade als Gläubiger im Zusammenhang mit der Kreuzigung Jesu von einem "verbrecherischen Richterspruch" oder einem "politischen Verbrechen" sprechen kann. Die Rede von einem "Verbrechen" klinge ganz so, als sei hier etwas geschehen, das nicht hätte geschehen dürfen, ja das von Rechtswegen hätte unterbunden werden müssen.

Ja, so mag diese Rede klingen. Doch das, was - nach dem Heilsplan Gottes - geschehen mußte, dürfte nicht ausschließen, jene anzuklagen, die das Geschehene zu verantworten haben: Pontius Pilatus und die jüdischen Führer mit ihrem "Weg, weg mit ihm, ans Kreuz mit ihm!" (Jo 19,15)

Im Evangelium, wenn auch nicht im Zusammenhang mit der Kreuzigung, heißt es: "Wehe der Welt wegen der Ärgernisse! Es müssen ja Ärgernisse kommen, aber wehe dem Menschen, durch den das kommt." (Mt 18,7)

Mathias von Gersdorff von der JF hat recht, wenn er Pontius Pilatus Opportunismus und Feigheit vorwirft. Doch ebenso hat Martin Lichtmesz recht, wenn er darauf hinweist, daß es nicht die Aufgabe dieses Pontius Pilatus sei, über den Anspruch Jesu zu urteilen, ein König zu sein, der in die Welt gekommen sei, "um für die Wahrheit Zeugnis abzulegen" (Jo 18,37).

Doch dessen Frage - "Was ist Wahrheit?" - läßt sich durchaus nicht nur im abschätzigen Sinne verstehen, sondern auch als eine echte Frage. Doch von einer möglichen Antwort darauf will er offensichtlich nichts wissen, sondern geht weg. So groß dürfte auch seine Furcht vor der Wahrheit sein.

Recht aufschlußreich im Hinblick auch auf die meisten unserer Bundestagsabgeordneten, die Merkel, Schäuble und Co. und deren Euro- und Zuwanderungspolitik vor allem nach dem Motto "Augen zu und durch!" zu folgen scheinen.

Bei Pontius Pilatus jedenfalls, der keine Schuld an Jesus finden kann, zieht am Ende doch die politisch korrekte Aussage der Hohenpriester: "Wir haben keinen König außer dem Kaiser" (Jo 19,16).

Lepidus

6. April 2015 17:39

M.L.: Das hatten wir hier schon einmal. Ich finde Carottas Theorie eher skurril, und noch skurriler sein Selbstbewußtsein, mit der er sie vertritt.

Ich kann keine Beiträge zu diesem Thema in den Kommentaren auf SiN entdecken. Wo sind sie?

M.L.: Gelöscht, weil sie mir zu blödsinnig waren. Außerdem vermute ich, daß Sie von Ihnen stammten. Die Diktion und der Inhalt, vor allem aber der missionarische Eifer waren nahezu identisch.

Wer Carottas Theorie "skurril" findet, hat sich in der Regel nicht eingehend damit beschäftigt. Hier ist die erste Ausgabe seines Buches und wer sich lieber einen Film anschaut, findet eine Dokumentation hier.
"Skurrile" Theorien gibt es in der Wissenschaft letztlich nicht, eine Theorie ist entweder wahr oder falsch. Nur Leute, die eine möglicherweise wahre Theorie a priori nicht wahrhaben wollen, setzen sie als "skurril" herab. Auf das Ad-personam-Argument braucht man nicht einzugehen.

M.L.: Natürlich gibt es "skurrile" Theorien, die sind dann aber in der Regel auch falsch.

M.L.: Der Mann hat selbst eine fette „Brille“ auf der Nase sitzen, und das obige Zitat läßt sich leicht auch auf ihn selbst münzen.

Carottas "Brille" ist die eines Linguisten. Außerdem hat er profunde Kenntnisse in Philologie, Alter Geschichte, Philosophie und Theologie.

M.L.: Halleluja!

M.L.: Aber selbst wenn er recht hätte, würde das für das Noch-Abendland keinerlei Bedeutung oder Folgen haben. Christus und Cäsar bleiben nunmal grundverschiedene Gestalten, wie sie antipodischer nicht sein könnten.

Wenn die Theorie stimmt – und fundierte Einwände sind bisher von niemandem vorgebracht worden –, sind Caesar und Christus ein und dieselbe Person, oder genauer gesagt, Julius Caesar ist der Name für den Menschen aus Fleisch und Blut, Jesus Christus ist der Name für den vergöttlichten Caesar, den Gott, den Divus Iulius und Parens Optime Meritus, wie er anfangs genannt wurde. Oder mit einem Bild: Caesar ist die Raupe, Christus ist der aus ihr entstandene Schmetterling. "Antipodisch" sind sie also nur insofern, als Menschen und Götter "antipodisch" sind. Die Behauptung, daß diese Erkenntnis, wenn sie einmal Gemeingut geworden ist, "für das Noch-Abendland keinerlei Bedeutung oder Folgen haben würde", ist, mit Verlaub, schiere Ignoranz und im Grunde anti-christlich.

M.L.: Und, um im Bild dieser Theorie zu bleiben, die „Transposition“, nicht die „hagiographische“ Vorlage ist es nunmal, die die Herzen und Seelen der Menschen ergriffen und verändert hat.

Wenn das Christentum aus dem Kult des göttlichen Caesar entstanden ist, bezog und bezieht es aus diesem seine herzen- und seelenergreifende und -verändernde Kraft. In dem Maße, in dem es sich von seiner Wurzel entfernt hat und weiter entfernt (u.a. durch die fortschreitende Judaisierung), ist es saft- und kraftloser geworden, was unschwer zu erkennen ist. Eine Rückbesinnung auf seinen wahren Ursprung, eine "Gemmation", könnte dem Christentum neue Vitalität verleihen. Welcher wahre Christ würde das nicht wollen?

M.L.: Ich schalte das frei, möchte aber festhalten, daß ich das für Unfug von der gröbsten Sorte halte. Mir gefällt auch der sektiererische Tonfall nicht. Alles weitere in dem Stil landet im Papierkorb.

Stil-Blüte

6. April 2015 20:20

Zu Pontius Pilatus auch für gläubige Christen kein Defätismus:

Michael Bulgakow,Meister und Margaritha'

Stil-Blüte

6. April 2015 20:57

Welches Teufelchen sperrt mich denn hier immer wieder aus? M. L. sind Sie es gar?

M.L.: Nein, was ist passiert? Sie müssen noch den Link zu "Meister..." ergänzen...

Also: Gibt es einen Dialog zwischen Pontius Pilatus und Jeschua? Ja. Empfehlenswert zu lesen, nicht nur für Häretiker: Michael Bulgakow: 'Meister und Margaritha'

Andreas Walter

6. April 2015 22:36

Hahaha, eine Interpretation sagt immer auch etwas über den Interpreten aus, nicht nur über das, was interpretiert wird.

Prokurator von Judäa werden darum Sie, Herr Lichtmesz, und nicht der Herr Mathias von Gersdorff.

Und jetzt packen Sie Ihre Truhe und sorgen bei den ewigen Streithähnen da unten endlich für Ruhe.

https://www.youtube.com/watch?v=7tU9K-FAKVw

Nachdenken

6. April 2015 22:40

Gibt es einen einzigen wissenschaftlich belastbaren Beweis für die Existenz von Jesus?

Martin

7. April 2015 07:55

Gibt es einen einzigen wissenschaftlich belastbaren Beweis für die Existenz von Jesus?

Diese Frage ist vollkommen irrelevant für die hier stattfindende Diskussion.+

M.L.: Nicht unbedingt - denn auch das fällt unter "Was ist Wahrheit?".

Monika

7. April 2015 09:04

Wenn mir jemand bewiesen hätte, daß Christus außerhalb der Wahrheit steht, und wenn die Wahrheit tatsächlich außerhalb Christi stünde, so würde ich es vorziehen, bei Christus und nicht bei der Wahrheit zu bleiben.

Dostojewskij 1854

Mit diesen Worten Dostojewskijs könnte man Nietzsche antworten.

(Mal wieder ein Danke an Herrn Lichtmesz für seine Meditation. Ich fände einen eigenen Block der SiN über christliche Themen naheliegend.)

@ Nachdenken

Ich weiß nicht, warum Sie über einen " einzigen wissenschaftlich belastbaren Beweis für die Existenz Jesu" nachdenken.

Aber zu sagen ist:
"die außerchristlichen Mitteilungen über Jesus sind äußerst spärlich und unscharf und treffen sich nur darin, daß sie seine Existenz nicht in Zweifel ziehen. Genauere und zuverlässigere Nachrichten begegnen uns nur in christlichen Quellen; diese aber berichten von ihm im Zeichen des Glaubens an ihn, in der Überzeugung von seiner unbedingten Autorität und seinem lebendigen Fortwirken und in der Absicht, Außenstehende für diesen Glauben zu gewinnen."
Bernd Moeller in " Geschichte des Christentums in Grundzügen", immer noch eine der besten Darstellungen der Geschichte des Christentums
https://www.buecher.de/shop/englisch/geschichte-des-christentums-in-grundzuegen/moeller-bernd/products_products/detail/prod_id/01531142/

Der Ungläubige Thomas brauchte letztendlich auch keinen wissenschaftlich belastbaren Beweis für die Existenz Jesu.

Halleluja.

Curth Sachs

7. April 2015 09:06

Danke schön. Beim Lesen des Gersdorffschen Artikels war mir sehr unwohl. Pilatus war ganz gewiss nicht der Prototyp eines korrupten Opportunisten, sondern er hat versucht zu tun, was seine Pflicht und seines Amtes war: Ruhe in der Provinz zu halten.

Der Versuch, die Schuld des Römers Pilatus möglichst groß darzustellen, scheint mir gegenwärtig auch damit zusammenzuhängen, dass die Schuld der Juden möglichst vergessen gemacht werden soll. Immer wieder wird -- zugegeben: nicht von Gersdorff -- ja argumentiert, es seien doch die Römer gewesen, die Jesus hingerichtet hätten, nicht die Juden, die Christus getötet haben. Wie absurd.

Waldgänger (e.B.) aus Schwaben

7. April 2015 09:15

Nach all den Beiträgen von Pontius zu Pilatus kommend und zurück - nun auch noch mein Scherflein:

Jesus sagte am Kreuz:
"Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun."

Dies wurde uns wohl nicht nur deshalb überliefert, um uns zu zeigen welch edler Mensch er war, und wir ihm darin nacheifern sollten.

Wir können wohl davon ausgehen, dass die Bitte Jesu erhört wurde. Wer, wenn nicht diese, für die Jesus am Kreuz um Vergebung bat, eingeschlossen sind, wurde durch das Kreuz erlöst?

Sie umfasste wohl auch nicht nur die Soldaten, die die Hinrichtung unmittelbar ausführten, sondern alle an der Kreuzigung Beteiligten. Sondern wohl auch einschliesslich dem Mob der schrie: "Kreuzigt ihn!", Pontius Pilatus, Judas und dem linken Schächer ?

Betrachtungen über die Schuldfrage sollten es nicht ausser Acht lassen, dass Jesus um Vergebung der Schuld bat.

Thomas Wawerka

7. April 2015 09:25

Simon:

Man muss immer im Hinterkopf behalten, dass es extrem schwer ist anhand der Evangelien zu rekonstruieren, was damals wirklich geschah. Die Evangelien sind vierzig bis siebzig Jahre nach den Ereignissen entstanden und zwar zu einer Zeit als die Römer gerade dabei waren die jüdischen Aufstände nieder zu schlagen und die Christen versuchten sich in Rom zu etablieren.

Man muss es im Hinterkopf behalten, aber in den Vorderkopf sollte man vielleicht auch folgendes aufnehmen: Erstens, die Evangelien haben ihrerseits ältere schriftliche Quellen. Zweitens, die jüdischen Mnemotechniken waren enorm leistungsfähig: Es wurde viel und genau auswendig gelernt!

Das heißt, es gab gute Gründe dafür, die ERzählung von allem „Jüdischen“ zu säubern. Statt dessen wurde das Neue Testament mit hellenischem Gedankengut aufgeladen.

Zumal es sich bei den Evangelisten um Heidenchristen handelte, die den Bezug zur judenchristlichen Urgemeinde längst verloren hatten ... - Aber das Hellenistische war schon lange vorher ins Leben und Denken eingedrungen. Der Konflikt zwischen hellenistischer "Globalisierung" vs. "identitärem" Judaismus - Gehört der Hellenismus zum Judentum? - war schon über 150 Jahre vor Jesus auf der Tagesordnung! Sämtliche Erneuerungs- bzw. Wiederherstellungsversuche waren exklusiver Art, ein "Reinigungsprozess": Wiedergewinnung des Eigenen durch Ausscheidung des Fremden (wobei das, was als "fremd" definiert wurde, schon so lange mitmischte, dass es sich mit Teilen des Eigenen längst vermischt hatte und nicht mehr davon zu trennen war). Erstaunlicherweise hebt sich Jesus und die Bewegung, die er initiiert hat, davon ab. Die ist zwar auch ein Reinigungsprozess, aber inklusiver Art. Das Verlorene wird nicht verdammt, sondern versöhnt. Jesus ist mit Zöllnern. Er lässt sich von einer Hure berühren. Er bestimmt, dass der Tempel ein Gebetshaus "für alle Völker" sein soll.
Vielleicht war das Christentum u.a. deshalb so erfolgreich, weil es der "Globalisierung" nicht wider-, sondern entsprach.

Der reale Jesus hat sich mit großer Wahrscheinlichkeit nie für den Sohn Gottes gehalten

Warum nennt er Gott dann "Vater"?

oder wäre auf die Idee gekommen zu glauben, dass seine Mutter ihn als Jungfrau geboren hat,

Das ist Spekulation. Jedes Argument an dieser Stelle ist Spekulation, egal ob pro oder contra.

oder dass es eine unsterbliche Seele direkt in den Himmel auffährt.

Daran hat er gewiss nicht geglaubt, sondern an das Gottesgericht, in dem die Toten leiblich auferweckt werden.

Die ganze Idee eines „Christus“, der Trennung des Reiches Gottes und des Kaisers, der Erlösung der Seele und die ganze Dreifaltigkeitsproblematik waren dem jüdischen Denken dieser Zeit völlig fremd. Der Messias war nach jüdischer Vorstellung ein Mensch aus Fleisch und Blut der die Juden von der Fremdherrschaft befreit.

Jesus war ja auch ein Mensch aus Fleisch und Blut - nur war seine Messiasvorstellung eben eine andere als die des gemeinen Judentums. Er hat den Erwartungen ja oft nicht entsprochen. Er hatte auch andere Vorstellungen vom Reich Gottes. Wärs nicht so, hätte er sich ja die Feindschaft der jüdischen Schriftgelehrten nicht zugezogen, sondern wäre von ihnen anerkannt worden.

Wäre Jesus 200 Jahre später tatsächlich auferstanden und hätte die theologischen Debatten in der Zeit von Konstantin verfolgt, hätte er deren Inhalt gar nicht begriffen.

Na gut, aber was sagt das aus? Die theologischen Debatten wurden geführt, weil man Begriffe für den Glauben finden musste. Es ist meines Erachtens unsinnig, die Ergebnisse dieser Debatten gegen das Zeugnis der Evangelien ausspielen zu wollen, den "kirchliche Christus" gegen den "biblischen Jesus". Freilich sind beide nicht deckungsgleich, aber sie stehen auch nicht unverbunden nebeneinander wie zwei völlig verschiedene Figuren. Zumal der größte Bruch mit allem Historischen, Biologischen, Biographischen, die Auferstehung, ein integraler Bestandteil der Jesusgeschichte ist.

Hermann Karst

7. April 2015 09:27

@ Nachdenken

Gibt es einen einzigen wissenschaftlich belastbaren Beweis für die Existenz von Jesus?

Was heißt „wissenschaftlich belastbar“? Vielleicht ist folgendes hilfreich beim weiteren „Nachdenken“:

1) In den ersten nachchristlichen Jahrhunderten waren sich christliche Autoren sicher, daß offizielle Berichte über Wirken und Tod Jesu aus der Amtszeit von Pilatus in den kaiserlichen Archiven zu finden seien und wiesen nachdrücklich darauf hin, z.B. Justin (um 150).

2) Tertullian (um 100) – wie auch Justin – waren sich sicher, daß die augusteische Volkszählung stattgefunden habe, die Akten in die kaiserlichen Archive aufgenommen worden seien und jeder, der sich die Mühe mache, dort die Registrierung Josefs und Marias finden könne.

3) Der römische Historiker Sueton (Kaiserbiographien) schreibt um 120, daß Kaiser Claudius (reg. 42 – 54) die Juden aus Rom vertrieben habe, weil sie von einem gewissen Chrestos aufgehetzt worden seien, Unruhe zu stiften.

4) Der Brand Roms im Jahre 64 wurde bekanntermaßen den Christen in die Schuhe geschoben. Der römische Historiker Tacitus – mit Zugang zu den Archiven – schreibt um 115/117 in diesem Zusammenhang die Erläuterung, der Name „Christen“ komme von Christus her, der unter Kaiser Tiberius von dem Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden sei.

5) Der jüdischstämmige Historiker Flavius Josephus (37/38 – nach 100) – kein Christ – berichtet von Johannes, dem „sogenannten Täufer“, von Jesus und seiner Kreuzigung unter Pilatus, von Jacobus, dem Bruder des Jesus Christus, und dem Prozeß des Sanhedrins (des Hohen Rats der Juden) gegen Jacobus.

Martin Lichtmesz

7. April 2015 11:20

Karawane zieht weiter, Dank an alle Teilnehmer!

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