»Herzliche Verschiedenheit« – Ein Gespräch mit dem Rußlandexperten Thomas Fasbender

Der promovierte Philosoph Thomas Fasbender ist vor zweiundzwanzig Jahren als Unternehmer nach Rußland gezogen. Im Manuscriptum-Verlag hat er unter dem Titel Freiheit statt Demokratie. Rußlands Weg und die Illusionen des Westens (268 S., 19.80 €, hier bestellen) soeben ein exzellent zu lesendes Buch veröffentlicht, das sich nur am Rande mit dem aktuellen Ukraine-Konflikt, um so ausführlicher mit der »russischen Seele« auseinandersetzt. Ellen Kositza sprach mit ihm:

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Sezes­si­on: Herr Fas­ben­der, die Kate­go­rien Befehl und Gehor­sam haben die Rus­sen bis heu­te in star­kem Maße ver­in­ner­licht. Zu moder­nen euro­päi­schen Gepflo­gen­hei­ten – Tole­ranz, Trans­pa­renz, Mit­spra­che­recht – scheint das nicht zu pas­sen. Erle­ben Sie Ihre Rus­sen als freie Menschen?

Fas­ben­der: Sicher ist, daß der rus­si­sche Mensch frei­er agiert, je nach Tem­pe­ra­ment auch rück­sichts­lo­ser. Das »ver­nünf­ti­ge« Ver­hal­ten hat längst nicht den Stel­len­wert wie in Deutsch­land. Vita­le Anar­chie gehört genau­so zum Leben wie die Sehn­sucht nach dem star­ken Mann. In der Öffent­lich­keit gibt es spür­bar weni­ger kol­lek­ti­ven Druck (die­ses tut man, jenes sagt man!) – das, was Sie »Gepflo­gen­hei­ten« nen­nen, ein unüber­setz­ba­res Wort! Über deut­sche Auto­fah­rer, die nachts, weit und breit nie­mand anders zu sehen, vor roten Ampeln hal­ten, kön­nen Rus­sen sich nur amü­sie­ren. Natür­lich sind die Struk­tu­ren im Wes­ten ver­läß­li­cher, Rechts­staat­lich­keit und alles, was damit zusam­men­hängt. Aber bedeu­tet das auch immer gleich mehr Frei­heit? Manch­mal, wenn deut­sche Poli­ti­ker oder Jour­na­lis­ten das Wort benut­zen, fra­ge ich mich ganz ehr­lich: Was mei­nen die jetzt damit?

Sezes­si­on: Sie beschrei­ben, wie sehr die Gesell­schaft und die behörd­li­chen Struk­tu­ren von Bestech­lich­keit in jeder Form durch­setzt sind. Ist Ruß­land in die­ser Hin­sicht lernfähig?

Fas­ben­der: Bedingt. Kor­rup­ti­on ent­steht nicht über Nacht, und sie ver­schwin­det nicht über Nacht. 2012 ist ein inter­es­san­tes Buch der ame­ri­ka­ni­schen Wis­sen­schaft­ler Ace­mo­g­lu und Robin­son erschie­nen: War­um Natio­nen schei­tern. Die bei­den behaup­ten, Staa­ten wüch­sen und gedie­hen, wenn sich im Lauf ihrer Geschich­te – maß­geb­lich im Zuge her­ber Kämp­fe zwi­schen Bür­gern und Macht – trans­pa­ren­te und plu­ra­lis­ti­sche Insti­tu­tio­nen durch­set­zen wür­den. Die Autoren nen­nen das »inklu­si­ve« Insti­tu­tio­nen im Kon­trast zu »extrak­ti­ven«. Inklu­si­ve Insti­tu­tio­nen moti­vie­ren mög­lichst vie­le Bür­ger, auch ohne Zuge­hö­rig­keit zur herr­schen­den Eli­te am Gemein­we­sen mit­zu­ar­bei­ten und Wachs­tum zu
schaf­fen. Was Ace­mo­g­lu und Robin­son nicht erklä­ren: wie­so fast nur pro­tes­tan­ti­sche Gesell­schaf­ten die­se inklu­si­ven Insti­tu­tio­nen her­vor­ge­bracht haben, allen vor­an die USA, Groß­bri­tan­ni­en, Kana­da, Aus­tra­li­en, Skan­di­na­vi­en. Unzu­frie­den­heit mit Kor­rup­ti­on exis­tiert über­all. Doch was sind die Trieb­kräf­te dafür, daß die eine Gesell­schaft sie über­win­det und die ande­re nicht? Kor­rup­ti­on ist ein Kon­ti­nu­um der rus­si­schen Geschich­te. Man kann froh sein, wenn es zu einer Ein­däm­mung kommt.

Sezes­si­on: Ange­nom­men, der Pro­tes­tan­tis­mus för­de­re die Trans­pa­renz – liegt die man­geln­de Trans­pa­renz rus­si­scher Insti­tu­tio­nen in der Ortho­do­xie begrün­det, und in Ita­li­en im Katholizismus?

Fas­ben­der: Ganz offen­sicht­lich bestimmt der in einer Gesell­schaft vor­herr­schen­de Glau­be den Cha­rak­ter des kol­lek­ti­ven Mit­ein­an­ders. Das gilt auch in weit­ge­hend säku­la­ri­sier­ten Gesell­schaf­ten; dort ist es dann die frü­her vor­herr­schend gewe­se­ne Kon­fes­si­on. Wobei die Ursa­che weni­ger in der Trans­pa­renz der Insti­tu­tio­nen liegt als im Selbst­ver­ständ­nis des ein­zel­nen in der Gemein­schaft. Schon der Begriff »Staat« wird in unter­schied­li­chen Kul­tu­ren völ­lig unter­schied­lich ver­stan­den. In Deutsch­land ist das Ver­ständ­nis von Staat und Gesell­schaft pro­tes­tan­tisch geprägt, auch dort, wo die meis­ten Men­schen katho­lisch sind. Kants kate­go­ri­scher Impe­ra­tiv wäre ohne Luther nicht vor­stell­bar. Sehen Sie sich bei Trans­pa­ren­cy Inter­na­tio­nal die Lis­te der Staa­ten mit der gerings­ten Kor­rup­ti­on an. Die haben fast alle eine pro­tes­tan­ti­sche Ver­gan­gen­heit, auch wenn dort heu­te kaum noch jemand in die Kir­che geht.

Sezes­si­on: Ist Putin der rich­ti­ge Mann, Trans­pa­renz in die Struk­tu­ren zu brin­gen, oder ist das gar nicht sein Ziel und sei­ne Auf­ga­be? Umfas­sen­der gefragt: Ist es über­haupt sinn­voll, an Ruß­land und an die rus­si­sche Gesell­schaft west­li­che Maß­stä­be anzulegen?

Fas­ben­der: Ace­mo­g­lu und Robin­son zei­gen, daß jeder Staat ein Mini­mum an Zen­tra­lis­mus und Inklu­si­vi­tät braucht, um über­le­bens­fä­hig zu sein. Vor allem dann, wenn er sich als Macht im Wett­be­werb mit ande­ren behaup­ten will. Putin weiß das genau – er muß das intel­lek­tu­el­le Poten­ti­al des Lan­des erschlie­ßen, die rus­si­schen Men­schen bewe­gen, initia­tiv und krea­tiv zu sein. Die Roh­stof­fe besitzt das Land sowie­so. Was ihm im Wege steht, ist die man­geln­de Pra­xis der Selbst­ver­wal­tung. Sub­si­dia­ri­tät ist weit­ge­hend unbe­kannt. »Die da oben« geben die Macht ungern aus den Hän­den, und »die da unten « wis­sen nichts Rech­tes mit ihr anzu­fan­gen. Ich glau­be den­noch, daß Ruß­land sich peu à peu ein Demo­kra­tie­mo­dell schafft, das dem Land ange­mes­sen ist und auch ins 21. Jahr­hun­dert paßt. Aber es wird sicher nicht iden­tisch mit unse­rem deut­schen oder dem soge­nann­ten west­li­chen sein.

Sezes­si­on: Es heißt, alte Wer­te hät­ten bei den Rus­sen in für uns unvor­stell­ba­rem Maße über­lebt: Tra­di­ti­on, Fami­lie; die rus­si­sche Frau ist nicht »gegen­dert«. Nun ken­nen wir die hohen rus­si­schen Abtrei­bungs­zah­len. Wo sehen Sie Grün­de hierfür?

Fas­ben­der: Abtrei­bung wur­de 1920 in der UdSSR prak­tisch schran­ken­los lega­li­siert. Das war schlicht­weg eine Ver­hü­tungs­maß­nah­me, für die meis­ten Frau­en mehr­fach hin­ter­ein­an­der. Die Ste­ri­li­sie­rung hin­ge­gen war bis 1993 ille­gal. Der Höchst­stand von 5,5 Mil­lio­nen Abtrei­bun­gen bei zwei Mil­lio­nen Gebur­ten war 1965 erreicht. Seit­dem ist die Zahl rück­läu­fig. Allein zwi­schen 2002 und 2012 hat sie sich hal­biert. Ruß­land steht immer noch an der Welt­spit­ze. Ich bin aber sicher, daß sich da in den kom­men­den zehn, zwan­zig Jah­ren noch eini­ges tut.

Sezes­si­on: Das sind extre­me Zah­len. Lebens­schüt­zer wei­sen dar­auf hin, daß die hier­zu­lan­de gän­gi­ge Abtrei­bungs­be­reit­schaft die Men­schen von innen ver­ro­he, daß sie Wun­den und Nar­ben hin­ter­las­se. In Deutsch­land gab es auch im Vor-Pil­le-Zeit­al­ter nie annä­hernd rus­si­sche Zustän­de, es gibt sie auch heu­te nicht, wo für die Mehr­zahl der Frau­en Abtrei­bun­gen bil­li­ger (näm­lich kos­ten­los) zu haben sind als Ver­hü­tungs­mit­tel. Ist die Rus­sin rau­her, abge­stumpf­ter? Oder pragmatischer?

Fas­ben­der: Jede Dik­ta­tur ver­roht. Und bis 1991 herrsch­te in Ruß­land eine Dik­ta­tur, mehr als sieb­zig Jah­re lang. Kei­ne der mate­ri­el­len Welt­an­schau­un­gen hei­ligt das Leben als sol­ches – immer nur abhän­gig von bestimm­ten Eigen­schaf­ten und Qua­li­tä­ten. Auch die Nazis haben Men­schen nach genau fest­ge­leg­ten Attri­bu­ten für lebens­un­wür­dig erklärt. Wie gesagt, Ruß­land hat 1920 als ers­tes Land der Welt die Abtrei­bung mehr oder min­der bedin­gungs­los lega­li­siert. Da braucht man sich über das Resul­tat nicht zu wun­dern. Es wäre höchst unge­recht, dafür »die Rus­sin« in Haft zu nehmen.

Sezes­si­on: Was sehen Sie als die Gefah­ren und Risi­ken an, die Ruß­land heu­te zuset­zen? Der Druck vom Wes­ten, Zugriff vom Osten oder inne­re Fliehkräfte?

Fas­ben­der: Ich hal­te Ruß­land in der Sub­stanz für ein ziem­lich sta­bi­les Gebil­de. Das liegt nicht zuletzt an den Bin­dungs­kräf­ten der »ruß­län­di­schen Zivi­li­sa­ti­on«. Poli­ti­sche Umwäl­zun­gen sind immer mög­lich, aber sie blei­ben auf den Aus­tausch von Tei­len der Eli­te beschränkt. West­lich-demo­kra­ti­sche Ver­hält­nis­se wird es nicht geben. Chi­na ver­leibt sich viel­leicht irgend­wann die Äuße­re Mon­go­lei ein, aber sicher nicht das gan­ze Sibi­ri­en. Der Süden ist und bleibt die offe­ne Flan­ke zum Islam. Nun haben alle Rei­che zu allen Zei­ten Grenz­krie­ge geführt, und Ruß­land hat dar­in eine jahr­hun­der­te­lan­ge Übung. Ja, es gibt die­se eth­ni­schen Flieh­kräf­te, aber man hat hier eine ande­re Fähig­keit, Unschär­fen aus­zu­hal­ten. Ein Neben­ein­an­der in herz­li­cher Ver­schie­den­heit ist in Ruß­land wohl ein gang­ba­rer Weg. Im Ver­hält­nis zum Wes­ten regiert die alte Haß­li­e­be. Euro­pa wird schwä­cher, dadurch lösen sich die heu­ti­gen Pro­ble­me von allein. So arro­gant wie der­zeit wird der Wes­ten in 25 Jah­ren nicht mehr auftreten.

Sezes­si­on: In den Begriff »Wes­ten« bezie­hen Sie auch die USA ein, oder? Noch sind die USA ja die ein­zi­ge glo­bal agie­ren­de, zumin­dest mili­tä­risch hoch­über­le­ge­ne Weltmacht.

Fas­ben­der: Die USA sind wesent­lich jün­ger als Euro­pa, und sie haben den alten Kon­ti­nent als glo­ba­le Macht schon im 20. Jahr­hun­dert abge­löst. Doch auch Ame­ri­ka schwä­chelt, viel­leicht nur vor­über­ge­hend. Es ist an uns Euro­pä­ern, unse­re Zukunft zu bestim­men. Ich glau­be defi­ni­tiv nicht an die Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Euro­pa, und ich wün­sche mir auch kein Euro­pa unter dem Rock­schoß einer zwi­schen Iso­la­tio­nis­mus und Welt­po­li­zei schwan­ken­den USA. Der Wes­ten und Euro­pa – das sind kei­ne iden­ti­schen Begrif­fe. Und Euro­pa ist kein Druck­kes­sel vol­ler Impe­ri­en mehr, die sich auf Teu­fel komm raus bekrie­gen müs­sen. Was wir brau­chen, und das gilt gera­de für Deutsch­land, ist eine Opti­on sowohl in Euro­pa als auch jen­seits des Westens.

Tho­mas Fas­ben­der. Frei­heit statt Demo­kra­tie. Ruß­lands Weg und die Illu­sio­nen des Wes­tens, 368 S., 19.80 – hier bestellen

Und neu bei Antai­os: Das Grund­la­gen­werk des rus­si­schen Den­kers Alex­an­der Dugin auf deutsch: Kon­flik­te der Zukunft. Die Rück­kehr der Geo­po­li­tik, 256 S., 19.95 € – hier bestellen

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (1)

Carsten

12. Dezember 2014 19:25

Das Interview habe ich gerade auf Papier gedruckt gelesen, denn der Postbote hat mir heute das erstes Heft meines neuen Soli-Abos der Sezession gebracht. Schönes Magazin!

Das Foto des schneidigen Kosaken, der in Sotschi "Pussy Riot"-Gören mit der Pferdepeitsche züchtigt, ist ein herrliche Bildikone!

Für diesen Beitrag ist die Diskussion geschlossen.