Wiedervorlage (15): Dominique Venner

Der französische Staat hat heute alle Gedenkveranstaltungen für den Historiker Dominique Venner verboten und Räumlichkeiten blockieren lassen.

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Ven­ner hat­te sich vor zehn Jah­ren in der Kathe­dra­le Not­re Dame in Paris erschos­sen, aus Pro­test gegen die Ein­füh­rung der Homo-Ehe in Frank­reich. Sezes­si­on hat­te noch eine Woche zuvor mit Ven­ner ein Inter­view geführt. Anlaß war Ven­ners neu­es Buch: Le Choc de l’His­toire – Der Schock der Geschich­te. Im Ver­lauf des Gesprächs deu­te­te Ven­ner an, daß unse­re Zeit reif sei für sym­bo­li­sche Aktio­nen und per­sön­li­che Opfer.

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SEZESSION: Le Choc de l’Histoire behan­delt Fra­gen, die Sie schon seit lan­gem unter­su­chen. Wozu also Ihr neu­es Buch?

VENNER: Die­ses Buch stellt eine Syn­the­se in der dyna­mi­schen Form von Gesprä­chen dar. Die Wahr­neh­mung his­to­ri­scher Umwäl­zun­gen steht schon lan­ge im Zen­trum mei­ner Arbei­ten und Über­le­gun­gen als His­to­ri­ker. Sie umfaßt die Bezie­hun­gen zwi­schen Reli­gi­on und Iden­ti­tät, Kon­ti­nui­tät und Renais­sance der Kul­tu­ren, die als Aus­druck der Iden­ti­tät der Völ­ker auf lan­ge Sicht aus­ge­legt sind. So hat Euro­pa in sei­ner sehr lan­gen Geschich­te vie­le Ant­wor­ten, die ihre Quel­le in den home­ri­schen Gedich­ten haben, als Aus­druck eines meh­re­re tau­send Jah­re alten indo­eu­ro­päi­schen Erbes gefunden.

SEZESSION: Wie­so haben Sie dann den Titel Schock der Geschich­te gewählt – und was soll er bedeuten?

VENNER: Den Schock der Geschich­te erle­ben wir, ohne es zu begrei­fen. So ver­hielt es sich schon immer. Erst spä­ter ermißt man die Reich­wei­te von Ver­än­de­run­gen. Vie­le Epo­chen vor uns haben his­to­ri­sche Schocks erfah­ren und haben uner­meß­li­chen Her­aus­for­de­run­gen getrotzt: die Per­ser­krie­ge für die anti­ken Grie­chen, der Ver­fall der römi­schen Repu­blik vor Augus­tus. Im Lau­fe der „moder­nen“ und zeit­ge­nös­si­schen Jahr­hun­der­te haben his­to­ri­sche Schocks Ideen­ver­än­de­run­gen her­vor­ge­ru­fen. Machia­vel­li ist bei­spiels­wei­se das Resul­tat der Wir­ren Flo­renz’ und Ita­li­ens gegen Ende des 15. Jahr­hun­derts, Mon­tai­gne ist das Resul­tat der Reli­gi­ons­krie­ge in Frank­reich, Hob­bes der ers­ten eng­li­schen Revo­lu­ti­on, Mar­tin Heid­eg­ger der Wahr­neh­mung des Ein­flus­ses der Tech­nik, Carl Schmitt der deut­schen Kata­stro­phe in der Fol­ge des Ver­sailler Ver­tra­ges (2), Samu­el Hun­ting­ton der neu­en Welt nach dem Kal­ten Krieg – wobei Hun­ting­ton die Din­ge als Ame­ri­ka­ner, nicht als Euro­pä­er sah.

SEZESSION: Wo ist hier der prä­zi­se Unter­schied zwi­schen ame­ri­ka­ni­schem und euro­päi­schem Blickwinkel?

VENNER: Das 20. Jahr­hun­dert war für die Ver­ei­nig­ten Staa­ten ein Zeit­al­ter des kon­ti­nu­ier­li­chen Auf­stiegs in Rich­tung Domi­nanz und Beherr­schung der Welt – ein­schließ­lich des kul­tu­rel­len Rau­mes. Die­sel­be Peri­ode – beson­ders nach 1945 – war für Euro­pa jedoch jene des Zusam­men­stur­zes, der Unter­wer­fung und der bei­spiel­lo­sen Demoralisierung.

SEZESSION: Und inwie­fern mani­fes­tiert sich der neue Schock der Geschichte?

VENNER: Mit Beginn des 21. Jahr­hun­derts sind wir in ein neu­es his­to­ri­sches Zeit­al­ter ein­ge­tre­ten, das die Euro­pä­er von den Fol­gen des Jah­res 1945 befrei­en wird. Schon von den zwei gro­ßen Kräf­ten, die sich 1945 in Yal­ta Euro­pa geteilt hat­ten, ist eine ver­schwun­den; das ist etwas, was sich doch nie­mand vor­ge­stellt hät­te. Der Kom­mu­nis­mus (die Zukunft der Welt!) implo­dier­te, und ein neu­es Ruß­land ist aus den Trüm­mern her­vor gestie­gen. Und die­ses natio­na­le Ruß­land wird der kon­ti­nen­ta­le Part­ner Euro­pas gegen­über den Ver­ei­nig­ten Staa­ten. Was die Ver­ei­nig­ten Staa­ten betrifft, müs­sen sie ja jetzt mit Chi­na, dem Islam, Süd­ame­ri­ka und einer unbe­stän­di­gen Welt rech­nen. Die Hel­den von ges­tern wer­den die Ver­damm­ten von mor­gen werden…

SEZESSION: Wenn Sie hier von Euro­pa als dem Part­ner eines neu­en Ruß­lands spre­chen, wer­den sie wohl kaum an die Struk­tu­ren der Euro­päi­schen Uni­on in ihrer jet­zi­gen Form denken.

VENNER: Ich den­ke an gar kei­ne der­zei­ti­ge poli­ti­sche Struk­tur, aber an unse­ren jahr­tau­send­al­ten Kul­tur­kreis, an unse­re Iden­ti­tät, an eine gewis­se „euro­päi­sche“ Art und Wei­se zu den­ken, zu füh­len, zu leben, die die Zeit über­dau­ert hat.

SEZESSION: Sie schrei­ben, daß die gro­ßen Kul­tu­ren kei­ne ver­schie­de­nen Regio­nen auf einem Pla­ne­ten dar­stel­len, son­dern selbst ver­schie­de­ne „Pla­ne­ten“ sind. Was mei­nen Sie damit?

VENNER: Die Men­schen bestehen nur durch das, was sie unter­schei­det: Clan, Stamm, Stadt, Nati­on, Kul­tur, Zivi­li­sa­ti­on und nicht durch das, was sie rein ani­ma­lisch gemein­sam haben, die Sexua­li­tät oder das Bedürf­nis nach Nah­rung. Ihre Mensch­lich­keit begrün­det sich in Tra­di­tio­nen und geis­ti­gen Wer­ten, die die Zeit über­dau­ern. Wenn zum Bei­spiel die simp­le Sexua­li­tät als Hand­lung so uni­ver­sell ist, wie sich zu ernäh­ren, ist doch die Lie­be in jeder Kul­tur ver­schie­den; so ver­schie­den wie die Dar­stel­lung der Weib­lich­keit, der Wahr­neh­mung des Kör­pers, der Gas­tro­no­mie oder der Musik. Die­se Züge sind die Spie­ge­lun­gen einer gewis­sen Mor­pho­lo­gie der See­le, die durch Ata­vis­mus sowie durch Erfah­rung über­mit­telt wur­de. Man weiß ja, daß der Ein­fluß neu­er Reli­gio­nen die Vor­stel­lun­gen und das Ver­hal­ten ver­än­dern kann. Aber die Tra­di­ti­on eines Vol­kes wan­delt auch die ein­ge­führ­ten Reli­gio­nen. In Japan hat der Bud­dhis­mus etwa eine krie­ge­ri­sche Prä­gung erhal­ten, die er in Chi­na nicht kennt. Man könn­te sagen, daß jedes Volk sei­ne eige­nen Göt­ter hat, die von sich selbst kom­men und sogar dann noch über­le­ben, wenn sie bereits ver­ges­sen scheinen.

SEZESSION: Sie schrei­ben und spre­chen von einer „Mor­pho­lo­gie der See­le, die durch Ata­vis­mus sowie durch Erfah­rung über­mit­telt wur­de“. Das gilt in unse­rem Kon­text doch eben­falls für euro­pa­stäm­mi­ge US-Ame­ri­ka­ner. Wie erklä­ren Sie sich, daß Ame­ri­ka­ner genu­in euro­päi­schen Ursprungs mit der euro­päi­schen Tra­di­ti­on gebro­chen haben, um eine neue Tra­di­ti­on zu begrün­den, die ihrer alten euro­päi­schen ent­ge­gen­ge­setzt ist?

VENNER: Ich ver­wei­se auf eine Beob­ach­tung des öster­rei­chi­schen Geo­po­li­ti­kers Jor­dis von Lohau­sen (3). Er stell­te fest, daß umge­sie­del­te Deut­sche irgend­wo in Euro­pa, zum Bei­spiel in Ruß­land, immer deutsch blei­ben, selbst meh­re­re Jahr­hun­der­te nach­dem sie aus­ge­wan­dert waren. Ande­rer­seits reicht schon eine Gene­ra­ti­on aus, damit in die USA aus­ge­wan­der­te Deut­schen auf­hö­ren, sich deutsch zu füh­len und statt des­sen Ame­ri­ka­ner wer­den, die den ande­ren glei­chen. Das wirft eine ernst­haf­te Fra­ge auf. Sie umfaßt auch, daß nicht alles von der „Ras­se“ abhängt, wie man einst annahm. Die aus Euro­pa gekom­me­nen Ame­ri­ka­ner haben jedoch die „ani­ma­li­schen“ Qua­li­tä­ten ihrer Ursprün­ge bei­be­hal­ten: Ener­gie, kämp­fe­ri­scher und unter­neh­men­der Elan, Erfin­der­geist… Aber ihre „Vor­stel­lun­gen“ (ihrer Welt­an­schau­ung) sind durch ihre Umsied­lung in die Neue Welt ver­wan­delt wor­den. Es ist das Ergeb­nis der bibli­schen Uto­pie des „Gelob­ten Lan­des“, dem Traum von einer neu­en Welt fern Euro­pas. Die Grün­der tru­gen die Über­zeu­gun­gen, das neue „aus­er­wähl­te Volk“ zu ver­kör­pern, das aus­er­ko­ren wur­de, der gan­zen Welt den „Geist des Kapi­ta­lis­mus“ zu brin­gen, um eine For­mu­lie­rung von Max Weber auf­zu­grei­fen. Ver­ges­sen wir nicht, daß die täg­li­che Bibel­re­zep­ti­on in den ame­ri­ka­ni­schen Schu­len genau­so zwin­gend vor­ge­schrie­ben ist wie der Schwur am Ster­nen­ban­ner. Die mes­sia­ni­sche „Sen­dung“ der Grün­der ist eben­so die­je­ni­ge der Mehr­zahl der Ein­wan­de­rer gewor­den. Und die­se poli­ti­sche Reli­gi­on impli­zier­te, mit der gan­zen aris­to­kra­ti­schen und tra­gi­schen euro­päi­schen Tra­di­ti­on zu brechen.

SEZESSION: Das betrifft Euro­pa und die USA. Die Welt beher­bergt aber zwei­fel­los mehr Kulturkreise.

VENNER: Ja, und anders­wo wer­den die Sachen wahr­ge­nom­men, wie es sich weder die Ame­ri­ka­ner noch die Euro­pä­er vor­stel­len kön­nen. Um die­se Tat­sa­che zu erfas­sen, brin­ge ich in mei­nem Buch Rück­schlüs­se aus der fran­zö­si­schen Erfah­rung an. Zum Bei­spiel jenes Bei­spiel von Dalil Bou­bakeur, dem Vor­ste­her der Moschee von Paris. Der Islam, erklärt er, ist „sowohl eine Reli­gi­on, eine Gemein­schaft, ein Gesetz als auch eine Kul­tur. […] Mus­li­me sind nicht nur jene, die die fünf Pfei­ler des Islam prak­ti­zie­ren, son­dern alle, die zu die­ser iden­ti­tä­ren Gemein­schaft gehö­ren.“ Das ent­schei­den­de Wort ist hier „iden­ti­tär“. Der Islam ist dem­zu­fol­ge nicht nur eine Reli­gi­on. Er geht über die Reli­gi­on hin­aus und ist: „eine Gemein­schaft, ein Gesetz, eine Kultur“.

Wenn man von christ­li­cher Kul­tur geprägt ist, uni­ver­sa­lis­tisch und indi­vi­dua­lis­tisch, über­rascht das. Vie­le ande­re Reli­gio­nen, u. a. eben der Islam oder das Juden­tum, aber auch der Hin­du­is­mus, der Shin­to­is­mus oder der Kon­fu­zia­nis­mus, sind eben nicht nur Reli­gio­nen im christ­li­chen oder lai­zis­ti­schen Sinn des Wor­tes, das heißt eine Art per­sön­li­che Bezie­hung zu Gott, son­dern sie bil­den Iden­ti­tä­ten, Geset­ze, Gemein­schaf­ten aus.

SEZESSION: Könn­te eine neue Wahr­neh­mung der Iden­ti­tät den Euro­pä­ern hel­fen, wie­der zu sich zu fin­den, sich neu zu schaffen?

VENNER: Ich den­ke durch­aus, daß sie den Euro­pä­ern hel­fen kann, ihre eige­ne Authen­ti­zi­tät wie­der­zu­fin­den – jen­seits einer per­sön­li­chen Reli­gi­on oder ihres Fehlens.

SEZESSION: Wie defi­nie­ren Sie dann über­haupt die eige­ne „Authen­ti­zi­tät“?

VENNER: Zuerst wie ein zu wecken­des iden­ti­tä­res Gedächt­nis. Ein Gedächt­nis, das fähig ist, die Euro­pä­er mora­lisch zu bewaff­nen, um ihrem Ver­schwin­den im Nichts der gro­ßen uni­ver­sel­len Ras­sen­mi­schung und der Glo­ba­li­sie­rung zu trot­zen. Eben­so wie ande­re sich als Söh­ne von Shi­va, von Moham­med, von Abra­ham oder von Bud­dha wie­der­erken­nen, ist es nicht ver­kehrt, sich als Söh­ne und Töch­ter von Homer, von Odys­seus und von Pene­lo­pe zu wissen.

SEZESSION: In einem Edi­to­ri­al der Nou­vel­le Revue d’Histoire wan­del­ten Sie die berühm­te For­mel „Poli­tik zuerst“ um, und beton­ten, daß man heu­te sagen müß­te: „Mys­tik zuerst, Poli­tik danach“. Was woll­ten Sie dem Leser mit die­ser eigen­wil­li­gen Paro­le sagen?

VENNER: Unser Zeit­al­ter for­dert nicht mehr ein, „die Macht zu ergrei­fen“, wie man frü­her sag­te. Es gewährt dem Traum vom „Tag der Wen­de“ kei­nen Raum mehr. Die Poli­tik ist nicht mehr das Band, das dem Leben einen Sinn gibt. Unge­ach­tet der Stär­ken der poli­ti­schen Akti­on ist es nicht die Poli­tik, die den Euro­pä­ern das Gewis­sen zurück­ge­ben kann, was sie sind, und sie kann ihrem Leben des­glei­chen kei­ne Ori­en­tie­rung bie­ten. Die­ses Gewis­sen kann nur durch eine star­ke Wahr­neh­mung der Iden­ti­tät kom­men. Mit ande­ren Wor­ten: kei­ne poli­ti­sche Akti­on von hohem Niveau ist denk­bar ohne die Vor­be­din­gung eines iden­ti­tä­ren Gedächt­nis­ses, das fähig ist, sie zu len­ken. Aber Wor­te rei­chen dann nicht aus. Man muß Wor­te durch Taten bekräf­ti­gen kön­nen, man muß das Leben ein­set­zen, und dies muß bis zur Bereit­schaft rei­chen, das Leben zu opfern, wenn es erfor­der­lich erscheint.

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pdf der Druck­fas­sung aus Sezes­si­on 54 / Juni 2013

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