Die Schweigeminute

Deutschland, 23. Februar 2012, Punkt 12 Uhr. Während die Kirchenglocken die Mittagsstunde einschlagen, erheben sich die Menschen...

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

in Deutsch­land, von der Water­kant bis zu den Alpen, vom Rhein bis an die Oder von ihren Sitz- und Steh­plät­zen, hal­ten inne in ihrem Tun und Wer­ken, in ihren Gedan­ken, Wor­ten und Taten, schlie­ßen sich besin­nend die Augen oder wen­den sie gen Himmel.

Putz­frau putzt nicht mehr, Ver­käu­fe­rin ver­kauft nicht mehr, Kin­der­gärt­ne­rin kin­der­gärt­nert nicht; Rauch­fang­keh­rer rauch­fang­kehrt nicht mehr, Bäcker bäckt nicht mehr, Pfar­rer pfarrt nicht mehr, Bau­ar­bei­ter baut nicht, Leh­rer lehrt nicht. Lan­des­weit klap­pen Schul­klas­sen behut­sam ihre Rechen­hef­te und Lese­bü­cher zu, erhe­ben sich von den Sitz­bän­ken und ver­har­ren in schwei­gen­der Andacht. (Allein K.’s Kin­der täu­schen wie­der ein­mal epi­lep­ti­sche Anfäl­le vor.)  Die Preß­luft­häm­mer und die Moto­ren der Bus­se ste­hen still.

Die Säge ver­harrt auf hal­bem Wege im Holz, der Span in der Luft. Der Kaf­fee­be­cher in der Hand des Zei­tungs­re­dak­teurs stockt kurz vor der sonst so zynisch-kes­sen Lip­pe. Die Hand des Paket­aus­trä­gers, des­sen gespitz­ter Fin­ger sich der Tür­klin­gel nähert, erstarrt jäh, als die Mit­tags­glo­cke ihr “Gedenk O Mensch” erklin­gen läßt.  Der Sezes­sio­nist, der gera­de ein Buch über Mas­sen­wahn und kol­lek­ti­ve Psy­cho­sen liest, hält inne in sei­ner fri­vo­len Lek­tü­re. Der Nah­ver­kehr der gro­ßen Städ­te ruht, als hiel­te auch er den Atem an vor Erschüt­te­rung und Trau­er, Betrof­fen­heit und Empö­rung. Jedes ein­zel­ne ange­hal­te­ne Rad und Zahn­rad schreit es zum Him­mel: Nie wieder!

Sie alle, alle fol­gen gewis­sen­haft und ohne Zögern der Wei­sung, die der Deut­sche Gewerk­schafts­bund (DGB) und die Bun­des­ver­ei­ni­gung der Deut­schen Arbeit­ge­ber­ver­bän­de (BDA) erteil­ten. Die von rechts­extre­mis­ti­schen Gewalt­tä­tern ver­üb­ten Mor­de, Raub­über­fäl­le und Anschlä­ge erfül­len sie mit Abscheu und Ent­set­zen. Sie trau­ern um die Opfer. Ihr Mit­ge­fühl gilt den Fami­li­en und Freun­den, die gelieb­te Men­schen ver­lo­ren haben. Sie sind tief betrof­fen, daß nach den noch ganz fri­schen Erfah­run­gen der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Dik­ta­tur in Deutsch­land die­se ent­setz­li­chen Ver­bre­chen gesche­hen konnten.

Sie sind erfüllt vom Bewußt­sein, gemein­sam mit ihren Gewerk­schaf­ten, ihren Schul­mi­nis­tern, ihren Lan­des­vor­sit­zen­den, ihren Par­tei­en, ihrer Kanz­le­rin und allen Men­schen guten Wil­lens für ein Deutsch­land ein­zu­tre­ten, in dem Rechts­extre­mis­mus, Frem­den­feind­lich­keit und Anti­se­mi­tis­mus kei­nen Platz haben. Das ist ihre Pflicht, denn die eth­ni­sche und kul­tu­rel­le Viel­falt sind ihre täg­li­che, geleb­te Rea­li­tät. Jetzt, in die­ser schwe­ren Minu­te, geben sie alle, vom Taxi­fah­rer bis zum Pom­mes­ver­käu­fer, vom Stra­ßen­keh­rer bis zum Augen­arzt, vom Schaff­ner bis zum Bank­ma­na­ger ein Bei­spiel für erfolg­rei­che Inte­gra­ti­on, Respekt und  Tole­ranz. Die Rei­hen fest geschlos­sen ste­hen sie in der gemein­sa­men zivil­ge­sell­schaft­li­chen Pflicht, rechts­extre­mem Gedan­ken­gut ent­schie­den entgegenzutreten.

Ihr stil­les Geden­ken an die Opfer setzt ein kraft­vol­les Zeichen:
ein Zei­chen der Trau­er und des Mit­ge­fühls mit den Opfern, ihren Fami­li­en und Freunden,
ein Zei­chen der Ver­ur­tei­lung von Frem­den­hass, Ras­sis­mus und rechts­extre­mer Gewalt,
ein Zei­chen für die Viel­falt und Offen­heit Deutschlands.

Inzwi­schen, im Her­zen der Reichs­haupt­stadt. Der Saal im Kon­zert­haus am Ber­li­ner Gen­dar­men­markt ist abge­dun­kelt. 12 Ker­zen bren­nen. Für jedes der zehn Opfer der Neo­na­zi-Zel­le eine. Außer­dem ist eine Ker­ze ent­zün­det stell­ver­tre­tend für alle ande­ren Opfer rechts­extre­mer Gewalt und eine als Sym­bol für die gemein­sa­me Hoff­nung und Zuver­sicht. Um 10:30 Uhr tritt Bun­des­kanz­le­rin Ange­la Mer­kel in schwarz geklei­det vorn ans Pult. Hin­ter ihr hängt eine glän­zen­de Deutschlandflagge.

Sie beginnt mit ruhi­ger Stim­me die Rede, die eigent­lich der Bun­des­prä­si­dent hät­te hal­ten sol­len. Sie bit­tet um schwei­gen­des Geden­ken. “Mit die­sem Schwei­gen ehren wir die Opfer der Mord­se­rie”, sagt die Kanz­le­rin. Sie nennt jeden Namen der zehn Opfer und sagt ein paar Sät­ze zu jedem. “Er glaub­te als Geschäfts­mann an sei­ne Zukunft in Deutsch­land.” Oder: “Er hat sei­nen Traum von einem Blu­men­la­den erfüllt.” Die Augen fül­len sich mit Was­ser, die Nasen mit Nasen­se­kret. Die Stir­nen umwöl­ken sich düs­ter. Hin und wie­der geht ein lei­ses Schluch­zen und dezen­tes Nase­put­zen durch die erschüt­ter­te Runde.

Die Kanz­le­rin nennt die bei­spiel­lo­sen, über mehr als zehn Jah­re von den Behör­den unent­deck­ten Ver­bre­chen “bei­spiel­los für unser Land”. Wird es sich denn nie­mals zum Guten wen­den, wird es immer nur Böses her­vor­brin­gen? Und doch: es leis­tet Wider­stand. Gut drei Mona­te nach Auf­de­ckung der Mord­se­rie von Neo­na­zis demons­trie­ren Staat und Gesell­schaft heu­te Ent­schlos­sen­heit. Alle sind sie bereit, die Schuld auf sich zu neh­men, die Schuld ihrer Väter und Vor­vä­ter, ihrer Zeit­ge­nos­sen und Volks­ge­nos­sen, denn sie alle haben sich mit­schul­dig gemacht, durch ihr Schwei­gen, Weg­se­hen, durch ihre Sün­de, ande­re Men­schen in Gedan­ken, Wor­ten und Taten aus­ge­grenzt und dis­kri­mi­niert haben. Die Kanz­le­rin ent­schul­digt sich bei ihrer Rede bei den Ange­hö­ri­gen der von Neo­na­zis ermor­de­ten Men­schen für fal­sche Ver­däch­ti­gun­gen von Ermitt­lern. Es sei beson­ders beklem­mend, dass Ange­hö­ri­ge zu Unrecht unter Ver­dacht gestan­den hät­ten. “Dafür bit­te ich Sie um Ver­zei­hung”, sag­te Merkel.

Und i muaß jetzt glei speibn.

 

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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