Der Waldgang

pdf der Druckfassung aus Sezession 22/Februar 2008

sez_nr_223von Ernst Niekisch

Ernst Jünger und Ernst Niekisch gehörten zur intellektuellen Elite der Nationalrevolutionäre oder „Nationalbolschewisten" der Weimarer Zeit. Trotz der intensiven Mitarbeit Jüngers an Niekischs Zeitschrift Widerstand kann man aber nicht auf Identität der Positionen schließen. Niekisch äußerte 1952 in einem Brief, beide seien sich immer darüber im Klaren gewesen, daß ihre „Auffassungen in wesentlichen Dingen auseinandergingen" und fügte erklärend hinzu: „Er, in seiner ausgeprägten aristokratischen Art, glaubte lediglich durch Ideen-Verkündigung wirken zu können. Mich erfüllte politische Leidenschaft; ich wollte praktisch auf den Gang der Ereignisse Einfluß gewinnen."


Als Nie­kisch 1937 wegen Hoch­ver­rats ver­ur­teilt wur­de und bis zum Kriegs­en­de im Zucht­haus saß, leug­ne­te Jün­ger die Bekannt­schaft nie und ver­such­te zu hel­fen; in den Strah­lun­gen tritt Nie­kisch als „Cel­la­ris” auf. Auch nach 1945 und Nie­kischs Über­tritt zur SED blieb der Kon­takt trotz­dem erhal­ten, jedoch mein­te Nie­kisch, daß sie sich in die­ser Zeit am wei­tes­ten von­ein­an­der ent­fernt hät­ten. Eine neu­er­li­che Annä­he­rung sei erst mög­lich gewe­sen, nach­dem er selbst sich „seit etwa Anfang 1950 aus der prak­ti­schen Poli­tik zurück­ge­zo­gen habe”.
In die­ser Pha­se ent­stand der hier zum ers­ten Mal abge­druck­te Text, ein Typo­skript, das Nie­kisch an Jün­ger sand­te, um sei­ne Kri­tik am Wald­gang deut­lich wer­den zu las­sen. Einer Ver­öf­fent­li­chung stand ent­ge­gen, daß Nie­kisch zwar schon auf Distanz zur DDR-Füh­rung gegan­gen war, mit die­ser aber noch nicht gebro­chen hat­te. Die Aus­füh­run­gen las­sen des­halb auch erken­nen, in wel­chem Maß das Buch Jün­gers als aktu­el­le poli­ti­sche Stel­lung­nah­me auf­ge­faßt wur­de, bezo­gen auf den gro­ßen Ost-West-Kon­flikt, der – am 25. Juni 1950 hat­te der Krieg in Korea begon­nen – als Vor­be­rei­tung eines „Drit­ten Welt­kriegs” ver­stan­den wer­den konnte.
Karl­heinz Weißmann

Die Kri­tik hat sogleich begrif­fen, daß das neue Buch Ernst Jün­gers Der Wald­gang ein wesent­li­ches Anlie­gen zur Spra­che bringt: es ist das Anlie­gen zuerst der west­deut­schen, dann der euro­päi­schen Intel­li­genz über­haupt. Der Indi­vi­dua­lis­mus hat­te ver­ges­sen, daß der Mensch von Natur aus ein kol­lek­ti­ves Wesen ist; er hat­te die Gemein­schafts­bin­dung aus der Welt schaf­fen wol­len, indem er kur­zer­hand die Augen davor ver­schloß. Nun­mehr ist ein Umschlag ein­ge­tre­ten: die kol­lek­ti­ven Mäch­te brin­gen gegen­wär­tig dem Men­schen nahe, daß sie Tat­sa­chen sind, die sich nicht mehr als quan­ti­tés nég­li­ge­ables behan­deln las­sen wol­len. Der Kol­lek­ti­vis­mus ist die neue Welt­be­we­gung; in Ruß­land ist er bereits an sein Ziel gelangt, in Ame­ri­ka ist er auf dem Mar­sche. Euro­pa war der indi­vi­dua­lis­ti­sche Kon­ti­nent; die euro­päi­sche Intel­li­genz hat­te den Indi­vi­dua­lis­mus gera­de­zu auf die Spit­ze getrie­ben. Jetzt, nach­dem Euro­pa nur noch als geo­gra­phi­scher Begriff zwi­schen Ame­ri­ka und Ruß­land exis­tiert, fragt die euro­päi­sche Intel­li­genz ver­zwei­felt, wo sie mit ihrem Indi­vi­dua­lis­mus fer­ner­hin blei­ben soll. Die­se Fra­ge tauch­te schon gleich nach 1945 vor ihr auf. Damals setz­te die Intel­li­genz ihre gan­ze Hoff­nung auf die Inner­lich­keit, den „elfen­bei­ner­nen Turm”. Die Außen­welt bot für ihren Indi­vi­dua­lis­mus kei­nen Tum­mel­platz mehr, aber in den Bezir­ken der Inner­lich­keit, der Kunst, der Dich­tung, der Phi­lo­so­phie, der Musik und der Reli­gi­on konn­te er sich unbe­engt wei­ter­hin aus­to­ben. Es war die Zeit, in der die „Wand­lung” ergrif­fe­ne Leser fand. Man woll­te sei­nen Indi­vi­dua­lis­mus behaup­ten, indem man Exis­ten­tia­list, Sur­rea­list oder gar Theo­lo­ge wur­de. Inzwi­schen ist man aller­dings dahin­ter­ge­kom­men, daß im Rau­me der Inner­lich­keit die Luft viel zu dünn ist, als daß der Indi­vi­dua­list auf die Dau­er dar­in gedei­hen könn­te. Als Bür­ger der Inner­lich­keit muß man not­wen­dig Quie­tist sein; der Quie­tist frei­lich ist immer nur Objekt, Spiel­ball, Opfer der Her­ren der Din­ge und Ereig­nis­se; sein Frei­heits­ge­fühl beruht stets auf Selbst­täu­schung und Selbst­be­trug. Schließ­lich merk­te das auch der Indi­vi­dua­list der Inner­lich­keit. Doch fürch­te­te er, von den kol­lek­ti­ven Mäch­ten erdrückt zu wer­den, wenn er sich auf irgend­ei­ne Wei­se mit ihnen ein­ließ; des­halb sann er auf einen neu­en Flucht­weg. Der neue Flucht­weg heißt „Wald­gang”.
Der „Wald­gän­ger” ist weder Quie­tist noch Fata­list; so erfin­dungs­reich er ist, den kol­lek­ti­ven Mäch­ten aus­zu­wei­chen, so aktiv ist er doch, ihnen Abbruch zu tun. Man hat ihn zuwei­len einen geis­ti­gen Par­ti­sa­nen genannt, der sei­nen Krieg gegen den Kol­lek­ti­vis­mus auf eige­ne Faust, Gefahr und Ver­ant­wor­tung füh­re. Er will vor kei­nen Tat­sa­chen kapi­tu­lie­ren, er ist der Auf­stän­di­ge, Rebell in Per­ma­nenz. Er ist der euro­päi­sche Intel­lek­tu­el­le, der sei­ne letz­te Zuflucht nur noch in der Ver­we­gen­heit fin­det, sich in jedem Augen­blick aufs Spiel zu set­zen. Indem er dies tut, ist er Mann des Wider­stan­des. Als Mann des Wider­stan­des ist er der Beschirm­er des Wesent­li­chen und Eigent­li­chen, der ewi­gen Wer­te, der unver­gäng­li­chen Sub­stanz, des Urgrun­des, dem das Ech­te und Bele­ben­de ent­steigt. Die kol­lek­ti­ve Macht ist dem­ge­gen­über die Ver­fol­ge­rin und Ver­der­be­rin aller Schät­ze mensch­li­cher Tie­fe; sie ver­flacht den Men­schen zu einem ver­öde­ten Schablonen‑, Nor­men- und Maschi­nen­we­sen. In der „Ein­sam­keit des Wal­des” ret­tet der Wald­gän­ger nicht nur die­se hohen mensch­li­chen Güter; er ver­tei­digt sie und im Bewußt­sein sei­ner Sen­dung ver­lernt er die Angst vor dem Levia­than, der erbar­mungs­los alles zer­tre­ten möch­te, was non­kon­for­mis­tisch ist.

Der „Wald­gän­ger” ist in einem neu­en Gewan­de jene typi­sche Grund­fi­gur, die uns in allen bedeut­sa­men Wer­ken Jün­gers immer wie­der begeg­net. Als Frem­den­le­gio­när ent­flieht er unbe­que­men Ord­nun­gen bis an den Rand der afri­ka­ni­schen Wüs­te, als unbe­kann­ter Sol­dat besteht er die Stahl­ge­wit­ter, als Aben­teu­rer des Her­zens durch­wan­dert er traum­haft alle fürch­ter­li­chen Situa­tio­nen, wel­che das Dasein bereit­hält, als Duld­er des Schmer­zes erlebt er sel­tens­te Genüs­se des Tri­um­phes, als Arbei­ter begeg­net er den Dämo­nen der Tech­nik; als anteil­neh­men­der Gast erlebt er die Kata­stro­phe der Mar­mor­klip­pen, als Idyl­li­ker distan­ziert er sich in den „Gär­ten und Stra­ßen” und in den „Strah­lun­gen” gegen die Schin­der­hüt­ten, die Gas­öfen und die Kriegs­greu­el der Hit­ler­schen Unter­welt; als Bur­gen­län­der ent­schwebt er in den kos­mi­schen Raum, als er ent­deckt, daß auch „Helio­po­lis” sei­nen Haken hat. Die­se Figur bin­det sich an kei­nen Zustand, sie ist immer bereit, einer Ord­nung, die ihr läs­tig fällt, den Rücken zu keh­ren, ja ihrem Unter­gang in die Hän­de zu arbei­ten. Wo man sie ankratzt, kommt der Nihi­list zum Vor­schein. Nur ungern möch­te die­ser Nihi­list erkannt sein; er liebt es, Mas­ken zu tra­gen und die Umwelt zu äffen. Die Mas­ke macht glau­ben, man habe noch irgend­ei­nen Sinn, eine Auf­ga­be, eine posi­ti­ve Hin­ter­ab­sicht. Ist die Sache die­ser Figur nicht schließ­lich die „Frei­heit”? Hofft sie am Ende nicht, wenn sie in den Wald geht, dort die „Frei­heit” zu fin­den und zu retten?
Was ist der Wald? Kei­nes­wegs han­delt es sich dabei um einen ganz ein­deu­ti­gen Begriff. Wald ist die Ein­sam­keit, in wel­che sich der Ein­zel­ne zurück­zieht, er ist das Abseits von aller Gesell­schaft und Zivi­li­sa­ti­on; er ist das Dunk­le, Gefühls­mä­ßi­ge, Instink­ti­ve, das die eige­ne Brust umschließt, er ist das Dai­mo­ni­on des Sokra­tes, das aus der Tie­fe spricht, aus wel­cher das Schick­sal gespeist wird, er ist die Grund­sub­stanz des Seins; er ist aber auch die natur­haf­te Wild­nis, in wel­che kein gesell­schaft­li­ches Gesetz, kei­ne gesell­schaft­li­che Ord­nung mehr hin­ein­reicht und in der man sich außer­halb jeder Bin­dung bewegt. Zuwei­len zeigt Jün­gers Wald mys­ti­sche Fär­bung; er ist der geheim­nis­vol­le Ort, an wel­chem der Mensch ganz rein und echt Mensch sein kann. Der Jün­ger­sche Wald hat eine gewis­se Ver­wandt­schaft mit Rous­se­aus Natur. Um dem Zwang der feu­dal-aris­to­kra­ti­schen Ord­nung zu ent­rin­nen, emp­fahl Rous­se­au, zur Natur zurück­zu­keh­ren, die dem Men­schen in sei­ner Nackt­heit Mut macht, sich allen stän­di­schen Ver­kramp­fun­gen und Ver­bie­gun­gen gegen­über als Glei­cher unter Glei­chen zu füh­len. Im Wal­de winkt vor allem Frei­heit. Aller­dings ist hier der Begriff der Frei­heit so viel­deu­tig wie es der­je­ni­ge der Wild­nis ist. Ist die Frei­heit der sou­ve­rä­nen Aris­to­kra­tie gemeint, deren Opfer die Knech­te und Unter­ta­nen sind? Han­delt es sich um die Frei­heit des Bür­gers, der die Chan­ce sei­nes Reich­tums gegen den arbei­ten­den Men­schen rück­sichts­los aus­nutzt? Ist an die Frei­heit des Raub­tiers gedacht, das auf sei­ner Wild­bahn jede Krea­tur anfällt, die sei­nen Appe­tit reizt? Wenn jedoch nur die Frei­heit der Selbst­be­stim­mung gemeint ist, muß gefragt wer­den, inwie­weit Selbst­be­stim­mung über­haupt mög­lich ist und wer die­se Selbst­be­stim­mung finanziert.

Indes darf man es begriff­lich mit dem Wal­de nicht so genau neh­men: im Grun­de ist er doch immer wie­der nur das Sym­bol des Unge­sell­schaft­li­chen. Der Ein­zel­ne emp­fin­det den Druck der gesell­schaft­li­chen Macht so stark, daß er mit ihr schlecht­weg nichts zu schaf­fen haben möch­te. Dem­ge­mäß rückt hier der Wald­gän­ger schil­lernd in das Licht, ledig­lich auf Flucht zu sin­nen. Das Lob des Wal­des ist ein schar­fer Pro­test gegen die kol­lek­ti­vis­ti­schen Ten­den­zen. Der „Wald­gang” ist eine pro­vo­ka­to­ri­sche Demons­tra­ti­on des Indi­vi­du­ums gegen den Kol­lek­ti­vis­mus. Vol­taire hat­te einst Rous­se­au iro­nisch ent­geg­net, er kön­ne sich doch nicht dazu ent­schlie­ßen, auf dem Bau­me zu leben und wie die Tie­re sich von Wur­zeln und Bee­ren zu näh­ren. So rea­lis­tisch hat­te Rous­se­au sein „Zurück zur Natur” gar nicht gemeint, so rea­lis­tisch will auch Jün­ger sei­nen „Wald­gang” nicht ver­stan­den wis­sen. Wie ergin­ge es am Ende auch die­sen Ein­zel­nen, die­sen indi­vi­dua­lis­ti­schen Intel­lek­tu­el­len im Wal­de? Das gan­ze Bil­dungs­gut, an dem sie ihren Geist geschult haben, ist tra­di­tio­nell-gesell­schaft­lich. Gesell­schaft­li­chen Insti­tu­tio­nen ver­dan­ken sie es, daß sie mit die­sem Bil­dungs­gut über­haupt in Berüh­rung kom­men konn­ten. Nur in der gesell­schaft­li­chen Kom­mu­ni­ka­ti­on bleibt ihr Geist leben­dig; auch Sokra­tes bedurf­te sei­ner Schü­ler und such­te ihrer auf dem Mark­te hab­haft zu wer­den. Als man ihm nach sei­ner Ver­ur­tei­lung die Flucht anbot, als man ihm die Gele­gen­heit eröff­ne­te, „in den Wald” zu gehen, lehn­te er es ab, von die­sem Schlupf­loch Gebrauch zu machen. Er blieb inner­halb der Gesell­schaft und als er den Gift­be­cher trank, tat er es als ein gesell­schaft­li­ches Wesen, das sich den Geset­zen der Gesell­schaft beug­te und gera­de nicht als ein „Wald­gän­ger” dage­gen meu­ter­te. Viel­leicht beru­hen sei­ne Grö­ße und sei­ne Wir­kung eben dar­auf, daß er sich nicht zu den geis­ti­gen Par­ti­sa­nen schlug. Schließ­lich ist der geis­ti­ge Par­ti­san, der „Wald­gän­ger”, immer nur ein ver­kapp­ter Nihi­list – und gera­de ein Nihi­list war Sokra­tes nicht.
So wird der Wald zu dem Ort, an wel­chem sich die Über­win­der der Todes­furcht und des Schmer­zes ihrer Unan­greif­bar­keit gegen­über den Kol­lek­ti­ven sicher wer­den wol­len. Sie sind, hier im Wal­de, nach ihrer Mei­nung, das Salz der Erde, die wah­re und vor­nehms­te Eli­te; in ihnen, so glau­ben sie, voll­endet sich der Sinn des Daseins. Sie füh­len sich als die eigent­li­che, durch ihre anti­kol­lek­ti­vis­ti­sche Bewäh­rung aus­er­le­se­ne Aristokratie.
Es ist begreif­lich, daß für die euro­päi­schen und west­deut­schen Intel­lek­tu­el­len, die durch Ame­ri­ka und durch Ruß­land den Boden unter ihren Füßen fort­ge­zo­gen sehen, ein sol­ches Wald­gän­ger­tum viel Ver­füh­re­ri­sches hat. Hier eröff­net sich für sie noch eine Mög­lich­keit, sich als Eli­te füh­len zu dür­fen, wenn­schon als eine Eli­te ganz beson­de­rer Art. Ihr Ver­dienst beruht nicht auf Leis­tun­gen für die Gesell­schaft, son­dern auf dem trot­zi­gen Abbruch, den sie der Gesell­schaft zufü­gen, auf der unver­söhn­li­chen Geg­ner­schaft, wel­che sie der Gesell­schaft zei­gen. Weil sie bemer­ken, daß im Zeit­al­ter der Tech­nik der gesell­schaft­li­che Zwang sich sach­not­wen­dig ver­stärkt, wol­len sie jeden gesell­schaft­li­chen Zwang und die Tech­nik über­haupt über Bord wer­fen: in der Wild­nis hof­fen sie, ihr Heil zu finden.

Den „Ein­zel­nen” pei­nigt die Furcht vor dem Kol­lek­tiv; sein Eigens­tes fühlt er durch sie gefähr­det und wenn er sich zu behaup­ten trach­tet, droht ihm der Tod. Die Todes­furcht wür­de ihn zur Schwä­che ver­füh­ren, von Todes­furcht gejagt, wür­de er Kon­zes­sio­nen machen, die Ver­rat an ihm selbst wären. Die Über­win­dung der Todes­furcht ist eine Bedin­gung der Selbst­be­haup­tung des Ein­zel­nen. Er wird zum ech­ten und wirk­li­chen Wald­gän­ger erst, wenn er der Todes­furcht Herr gewor­den ist. Ist er dahin gelangt, dann ver­mag ihn das Kol­lek­tiv mit nichts mehr zu schre­cken. Er ist ein Sou­ve­rän, der es gefaßt dar­auf ankom­men läßt, was ihm pas­siert, wenn er von dem Kol­lek­tiv kei­ne Notiz mehr nimmt. Auch der Schmerz kann ihn zu kei­ner Kapi­tu­la­ti­on zwin­gen; indem der Ein­zel­ne die Kraft fand, dem Schmerz stand­zu­hal­ten, brin­gen ihn selbst die Schin­der­hüt­ten der Kol­lek­ti­ve nicht zum Erzittern.
Eine Sta­ti­on des Ein­zel­nen aber ist Ernst Jün­ger ver­bor­gen geblie­ben; es ist die wohl aben­teu­er­lichs­te und gefahr­volls­te, bis zu wel­cher er vor­drin­gen kann. Gesetzt den Fall, er ist durch die Schin­der­hüt­ten der kol­lek­ti­vis­ti­schen Macht – die Tyran­nei – gegan­gen und ihnen nur wie durch ein Wun­der ent­kom­men; gesetzt wei­ter, er hat jah­re­lang in die Abgrün­de des Todes geblickt und für sei­ne Per­son end­gül­tig mit dem Leben abge­schlos­sen; gesetzt fer­ner, er ist in den grau­en­volls­ten Schreck­nis­sen gestählt und hat jeg­li­che Angst vor dem Ent­setz­lichs­ten wie vor den Tyran­nen ver­lo­ren; gesetzt außer­dem, er hat inner­lich nie kapi­tu­liert und ist durch sei­ne Erleb­nis­se dage­gen gefeit, je zu kapi­tu­lie­ren; gesetzt schließ­lich, ihm erscheint schlecht­hin jede Form von Flucht und Aus­wei­chen als eine Schwä­che, die ihm, der Tod und Teu­fel begeg­net ist und die­se Begeg­nung erstaun­li­cher­wei­se über­stan­den hat, nicht mehr erlaubt ist; gesetzt das alles, so ist zu fra­gen, ob es sich für ihn noch schickt, „in den Wald zu gehen”. Für ihn ist es selbst­ver­ständ­lich, ein Ein­zel­ner zu sein; es geht ihm gegen den Geschmack, dar­aus über­haupt noch Wesens zu machen. Er ist sich sei­ner „Ein­zel­heit” so sicher, daß er ihrer gewiß sein darf, wo immer er geht und steht. Er ist so sehr über Schmerz und Leid, Lust und Freu­de erha­ben, daß ihn kein Bedürf­nis nach Sicher­heit treibt, der kol­lek­ti­ven Macht irgend­wie aus dem Wege zu gehen. Er ver­ach­tet sie, wie er alles zu ver­ach­ten gelernt hat, aber er hält es für über­flüs­sig, ja sogar für etwas groß­spre­che­risch, es ihr zu zei­gen. Er scheut sich nicht, sich in ihrem Bereich anzu­sie­deln und ihr das, was sie mit jenem Recht, das aus natür­li­chen Grün­den jede Gemein­schaft in Anspruch neh­men darf, ihm abfor­dert, zu geben. Es berührt ihn daher nicht, mög­li­cher­wei­se miß­ver­stan­den zu wer­den oder den Vor­wurf auf sich zu zie­hen, „unter sein Niveau gegan­gen” zu sein; er fin­det, daß es viel leich­ter gewe­sen wäre, als Par­ti­san im Wal­de zu leben. Wo aber die Gemein­schaft über das Maß des natür­li­chen und ver­nünf­ti­gen Rech­tes hin­aus­greift und die Unter­grün­de des Ein­zels­eins antas­tet, ver­wei­gert er ihr den Gehor­sam – aber er tut es ohne Lärm, ohne Pro­test, ohne Pose, ohne Pathos, er nimmt von der unan­ge­brach­ten und über­spann­ten For­de­rung der kol­lek­ti­ven Macht ein­fach kei­ne Kennt­nis. Er bleibt, ohne daß er zum Demons­tran­ten der Ein­zel­heit wer­den woll­te, ein­fach das, was er ist. Der Gedan­ke, ihm könn­te etwas zusto­ßen, beun­ru­higt ihn nicht; pas­siert ihm wirk­lich etwas, so hat das sei­ne Logik, die ihm nicht unbe­kannt ist und die seit alters her in Kraft war, wo sich eine Gesell­schaft gebil­det hat­te und ein Indi­vi­du­um aus dem all­ge­mei­nen Rah­men fiel.

Er weiß, daß das schlich­te Bei­spiel, das er täg­lich gibt, nicht ganz ohne Wir­kung bleibt. Es ent­zün­det in Unzäh­li­gen noch eine Ahnung davon, daß für die kol­lek­ti­ve Macht Gren­zen bestehen, die kein Mensch preis­ge­ben soll­te. Wenn es je denk­bar ist, den Levia­than in Schran­ken zu hal­ten, so kann das nicht vom Wal­de her und durch Par­ti­sa­nen gesche­hen. Der Wald­gän­ger, der sich osten­ta­tiv gegen die Gesell­schaft behaup­ten will, hat etwas Über­heb­li­ches, ja viel­leicht sogar Thea­tra­li­sches. Der Ein­zel­ne hat ein Recht, Ein­zel­ner zu sein, nur wenn es inner­halb der Gemein­schaft ist; noch­mals sei hier des Sokra­tes als des bewun­derns­wür­di­gen Vor­bil­des gedacht. Es mag unsag­bar schwer sein, inner­halb der Kol­lek­ti­ve sein Ein­zel­s­ein zu behaup­ten; aber was ist schon eine Indi­vi­dua­li­tät wert, die nicht auch die­se Schwe­re auf sich zu neh­men vermag?
Die Tage Euro­pas sind gezählt. Das Erbe des euro­päi­schen Geis­tes läßt sich nicht vom Wal­de her inner­halb der ame­ri­ka­ni­schen und rus­si­schen Über­frem­dung frucht­bar machen; nur inner­halb des Rah­mens die­ser Über­frem­dung muß, wenn auch oft opfer­voll, die Sache die­ses Erbes zur Gel­tung gebracht werden.
Die „Wald­gän­ge­rei” ist ein Rezept, das allen Indi­vi­dua­lis­ten, An-archis­ten, Nihi­lis­ten, allen jenen Eigen­bröt­lern und Sek­ten­hei­li­gen, die von ihrem Eli­te- und Aus­er­wählt­heits­be­wußt­sein nicht las­sen kön­nen, allen bür­ger­li­chen Euro­pä­ern, die aus dem trot­zi­gen Pro­test gegen unab­wend­ba­re Not­wen­dig­kei­ten ihr Selbst­ge­fühl näh­ren, wohl ein­geht; unter ihnen wird sie unver­meid­lich in Mode kom­men. Sie glau­ben, eine Tat zu voll­brin­gen, wenn sie durch ihren Wald­gang dem Levia­than ein Schnipp­chen schla­gen; sie wäh­nen, ihm Ein­trag zu tun, indem sie ein­fach nicht mit­ma­chen. Ihr Wald­gang ist Flucht aus der Geschich­te; sie haben gegen den Levia­than noch lan­ge kei­ne Schlacht dadurch gewon­nen, daß sie ihm den Rücken zeigen.
Es gibt Situa­tio­nen, die zur Tota­li­tät drän­gen und denen, wie über­schwem­men­den Was­ser­flu­ten, nie­mand zu ent­rin­nen ver­mag; sie holen auch den Leicht­fü­ßigs­ten ein, in wel­chen Höh­len des Wal­des immer er Schutz zu fin­den sucht. Man muß die Grund­sub­stanz des Seins im Macht­be­reich des Levia­thans ver­tei­di­gen; man kann es nur, wenn man ihm in unmit­tel­ba­rer Berüh­rung auf sei­ne Schli­che – auf sei­ne Gesetz­mä­ßig­kei­ten also – kommt. Man kann epi­so­den­haf­te poli­tisch-gesell­schaft­li­che Exzes­se – wie der Hit­le­ris­mus es war – zeit­wei­lig igno­rie­ren; wo neue glo­ba­le Ord­nun­gen unauf­halt­sam im Anzu­ge sind, kann man es nicht. Wer es trotz­dem tut, schlägt sich zum „ver­lo­re­nen Hau­fen” und wird zum „gewe­se­nen Menschen”.
Nicht unbe­merkt bleibt, daß der schil­lern­de und unprä­zi­se Cha­rak­ter des „Wald­gän­gers” Ernst Jün­ger die Mög­lich­keit gibt, zahl­rei­che Beob­ach­tun­gen und Refle­xio­nen die das Wesen der kol­lek­ti­ven Macht und die Reak­ti­on des Men­schen auf sie erhel­len, aus­zu­streu­en; sie sind wie sel­te­ne Blu­men, die der Wald­gän­ger auf sei­nen unge­bahn­ten Urwald­gän­gen plötz­lich und über­ra­schend entdeckt.

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