Monika Maron (1) – Zwischen den Zeilen

Die Debatte um die Schriftstellerin Monika Maron ist binnen weniger Tage zu einem grundsätzlichen und wegweisenden Feuilletonstreit geworden.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Bevor ich mich grund­sätz­lich über die Kon­takt­schuld äuße­re, die Maron in mei­ne, unse­re Rich­tung vor­ge­wor­fen wird, ver­wei­se ich auf mei­ne Beschäf­ti­gung mit einem ihrer Tex­te, den ich unter dem Titel “Zwi­schen den Zei­len. Inne­re Emi­gra­ti­on heu­te” ver­öf­fent­lich­te. Ich bin im Fal­le Marons kein poe­ti­scher, son­dern ein poli­ti­scher Leser. Mei­ne Gedan­ken sind die gekürz­te Fas­sung eines Vor­trags, den ich im Febru­ar im Rah­men der Win­ter­aka­de­mie “Lek­tü­ren” in Schnell­ro­da hielt. Es gibt sie in schrift­li­cher und in gespro­che­ner Form. Alles wei­te­re: später.

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PDF der Druck­fas­sung aus Sezes­si­on 94/Februar 2020

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Zwi­schen den Zeilen

Am 7. Novem­ber des ver­gan­ge­nen Jah­res ver­öf­fent­lich­te die Schrift­stel­le­rin Moni­ka Maron in der Neu­en Zür­cher Zei­tung einen Bei­trag unter dem Titel “Unser gal­li­ges Geläch­ter – es liegt mir fern, die Bun­des­re­pu­blik mit der DDR zu vergleichen”.

Schon der Unter­ti­tel ist eine Mit­tei­lungs­tech­nik: Marons Unter­ton legt nahe, daß es nicht mehr son­nen­klar ist, inwie­fern sich die DDR von damals und die BRD von heu­te im Umgang mit regie­rungs­kri­ti­schen Stim­men von­ein­an­der unter­schei­den. Denn wenn es ihr auch fern­lie­gen mag, DDR und BRD in die­sem Punk­te gleich­zu­set­zen, sieht sie sich doch gedrängt, öffent­lich dar­über zu berich­ten, daß sie über­haupt wie­der ans Ver­glei­chen denke.

Der Text beschreibt eine beson­de­re, ein gal­li­ge Art des Lachens, die in den Woh­nun­gen (den Rück­zugs­or­ten unter dik­ta­to­ri­schen Ver­hält­nis­sen) zu hören gewe­sen sei, wenn man sich nach Fei­er­abend traf und einander

erzähl­te, was man erlebt hat­te auf dem Woh­nungs­amt, mit der Poli­zei, im Betrieb oder Insti­tut, mit einem Par­tei­se­kre­tär, dem Chef­re­dak­teur, den Hand­wer­kern, den Taxi­fah­rern, beim Schu­he­kau­fen für die Kin­der, und fast alle die­se Geschich­ten waren so absurd, dass man dar­über nur ver­zwei­feln, vor Wut toben oder dar­über lachen konn­te, wütend und ver­zwei­felt lachen.

Nach dem Mau­er­fall sei, so Maron, die­ses Geläch­ter nicht mehr not­wen­dig gewe­sen, es sei ver­stummt, weil ja nun jeder alles sagen und schrei­ben konn­te, was er sagen und schrei­ben woll­te. Sie selbst habe ihre Aus­sie­de­lung von Ber­lin nach Ham­burg (bereits im Jahr vor der Wen­de) ganz und gar als einen Gang in die Frei­heit emp­fun­den und erlebt, und die Gesell­schafts­um­bau­be­mü­hun­gen des lin­ken und grü­nen städ­ti­schen Milieus sei­en zwar ulkig und läs­tig gewe­sen, hät­ten aber kei­ne über­grif­fi­ge Macht auf den Lebens­ent­wurf und die All­tags­ge­stal­tung, die poli­ti­sche Betei­li­gung oder Mei­nung des Ein­zel­nen aus­üben können.

Die­se Zei­ten, also: die Gewiß­heit, in einer tat­säch­lich frei­en Gesell­schaft zu leben, sei­en vor­bei, schreibt Maron.

Seit eini­gen Jah­ren höre ich es wie­der, ein böses, hilf­lo­ses Lachen, von mir und von ande­ren, von Ost­deut­schen und von West­deut­schen auch. Wir fra­gen uns gegen­sei­tig, ob die alle irre sind oder wir selbst, und weil wir uns nicht erklä­ren kön­nen, war­um das alles passiert.

Das, was da alles pas­siert (Maron zählt ein paar Sachen auf), ist das, was seit zehn Jah­ren für die Hell­hö­ri­gen und seit fünf Jah­ren für alle, die nicht taub sind, unüber­hör­bar aus dem Ruder läuft: das gro­ße Gesell­schafts­expe­ri­ment, zu des­sen Absi­che­rung unser Staat Maß­nah­men ergreift, die sei­nem Selbst­ver­ständ­nis zuwi­der lau­fen: Bevor­mun­dung, Ver­tu­schung, Über­wa­chung, Denun­zie­rung und Kriminalisierung.

Für sol­che Ord­nungs­ver­let­zun­gen, Lücken und Lügen, für die­ses Aus­ein­an­der­klaf­fen von Begriff und Bedeu­tung, Wirk­lich­keit und Wirk­lich­keits­be­schrei­bung, haben die ehe­ma­li­gen DDR-Bür­ger fei­ne Ohren, die feins­ten Anten­nen, und vor allem stellt sich bei ihnen sofort die Erin­ne­rung an eine gesell­schaft­li­che Atmo­sphä­re ein, aus der sie sich befreit hatten.

Es wird also wie­der gal­lig gelacht – wir wis­sen von die­ser zugleich befrei­en­den und hilf­lo­sen Äuße­rungs­form aus Marons Text, aber natür­lich auch aus eige­nem Erle­ben: Man ist ja in sol­chen Räu­men unter­wegs, kommt in sol­chen Wohn­zim­mern zu sit­zen, in denen Gesprä­che so ver­lau­fen und so mün­den. Aber sehr vie­le Leu­te machen sehr viel mehr als nur gal­lig zu lachen, auch Moni­ka Maron. Ihr Tätig­keits­feld ist der Text, ist die Autor­schaft, und indem sie aus den (neu­er­dings wie­der von DDR-Geläch­ter erfüll­ten) Wohn­zim­mern berich­tet, hilft sie denen, die das nicht so genau in Wor­te fas­sen kön­nen, die Lage zu ver­ste­hen, ein­zu­ord­nen, zu – vergleichen:

Es liegt mir fern, die Bun­des­re­pu­blik mit der DDR zu ver­glei­chen. … Wenn aber Zwei­fel schon ver­däch­tig sind, wenn Fra­gen als Pro­vo­ka­tio­nen wahr­ge­nom­men wer­den, wenn Beden­ken als reak­tio­när gel­ten, wenn im Streit nur eine Par­tei immer recht hat, kön­nen einen alte Gefüh­le eben über­kom­men. Und dann kann man dar­über ver­zwei­feln, vor Wut toben oder dar­über lachen, unser schö­nes gal­li­ges Gelächter.

“Die­ses Geläch­ter”, schreibt Moni­ka Maron, “war eine Form des Wider­stands”, und wir dür­fen lesen: Es war damals in der DDR und ist heu­te in der BRD wie­der eine Form des Wider­stands – eine Selbst­ver­ge­wis­se­rung zunächst, etwas, das im Freun­des­kreis für Über­ein­stim­mung sorgt, für eine befrei­en­de, die Wut ablei­ten­de Gemein­sam­keit, die jedes­mal nach­spielt, was in dem Mär­chen von “Des Kai­sers neu­en Klei­dern” vor­ge­führt wur­de: das gemein­schaft­li­che Geläch­ter über nack­te Tat­sa­chen. Im Mär­chen platzt das öffent­lich her­aus, in der Pha­se des Zusam­men­bruchs von Dik­ta­tu­ren auch, aber zuvor wird schon im Ver­bor­ge­nen gedacht und gelacht, und öffent­lich wird ange­deu­tet, zwi­schen den Zei­len geschrie­ben, die Gren­ze des Sag­ba­ren ausgereizt.

Es gibt für die­se Tech­nik des Schrei­bens in Chif­fren den Begriff: “Inne­re Emi­gra­ti­on”. Man faß­te bald nach dem Krieg die in Deutsch­land wäh­rend des Drit­ten Reichs ver­blie­be­nen, aber publi­zis­tisch wider­stän­di­gen Schrift­stel­ler unter die­ser Bezeich­nung zusammen.

Das bekann­tes­te Werk, das die­ser Epo­che zuge­rech­net wird, ist Ernst Jün­gers Roman Auf den Mar­mor­klip­pen von 1939. Er rief in ihm den “Wider­stand durch rei­ne Geis­tes­macht” aus und zeich­ne­te Schre­ckens­sze­na­ri­en von gro­ßer pro­gnos­ti­scher Kraft. Ande­re Bei­spie­le sind Wer­ner Ber­gen­gruens Roman Der Groß­ty­rann und das Gericht (1935, The­ma ist das Wech­sel­spiel aus Ver­däch­ti­gung, Gefall­sucht und tota­ler Herr­schaft), Rein­hold Schnei­ders Las Casas vor Karl V. (1938, über den Mut zur Ankla­ge vor dem Herr­scher­thron) oder auch Fried­rich Reck-Mallec­ze­wens Bockel­son (1937, die “Geschich­te eines Mas­sen­wahns” in der Zeit der Müns­te­ra­ner Widertäufer).

Jedes die­ser Wer­ke konn­te ein­fach als lite­ra­ri­sches Werk gele­sen wer­den, dann aber auch als poli­ti­sche Bot­schaft von denen, die zwi­schen den Zei­len zu lesen ver­moch­ten. Die Autoren meis­ter­ten Balan­ce­ak­te: Zum einen durf­te die Ver­schlüs­se­lung das Dechif­frie­rungs­ver­mö­gen der Leser­schaft nicht über­for­dern, zum ande­ren aber dem Macht­ap­pa­rat kei­ne ein­deu­ti­gen Argu­men­te an die Hand geben. Die eben­falls der Inne­ren Emi­gra­ti­on zuge­rech­ne­te Schrift­stel­le­rin Eli­sa­beth Lang­gäs­ser nann­te die sprach­li­che Jon­glier­kunst sol­chen Schrei­bens ein “Spiel mit sechs­er­lei Bällen”.

Natür­lich ist “Inne­re Emi­gra­ti­on” über die­se Epo­che hin­aus zur Bezeich­nung für das nicht mehr ganz offe­ne, ganz unmiß­ver­ständ­li­che Schrei­ben und Reden unter poli­tisch eng­ge­fah­re­nen Ver­hält­nis­sen gewor­den (um es ein­mal recht harm­los aus­zu­drü­cken). “Inne­re Emi­gra­ti­on” steht dabei nicht für einen Rück­zug ins Pri­va­te, ins Ver­bor­ge­ne, ins Unauf­fäl­li­ge, ins Schwei­gen, in die Ver­wei­ge­rung, die Nicht­be­tei­li­gung; sie steht für das Auf­recht­erhal­ten der Äuße­rung, für die geschick­te Betei­li­gung dort, wo sie gewagt wer­den kann.

Es geht um Ver­hal­tens­leh­ren ent­lang einer Linie, die wahr­zu­neh­men man erst (wie­der)  ler­nen muß: Was äuße­re ich wo, was ver­ste­cke ich lie­ber, wel­che Wör­ter, wel­che Wer­tun­gen scha­den mir, wenn ich sie auch dort anbrin­ge, wo wir uns nicht “in der Sicher­heit des Schwei­gens” befin­den (um ein Phra­se Carl Schmitts zu bemühen)?

In die Inne­re Emi­gra­ti­on zu gehen bedeu­tet, ein geis­ti­ges Dop­pel­le­ben zu begin­nen, also ins nicht mehr ein­deu­tig Deut­ba­re aus­zu­wei­chen: in den Witz bei­spiels­wei­se, in die Anspie­lung, in eine Spra­che, die hin­ter den nahe­lie­gen­den Sinn einen Hin­ter­sinn packt, also etwas zwi­schen die Zei­len schreibt, was nur der­je­ni­ge zu lesen ver­mag, der so etwas ahnt oder auf so etwas hofft. Vor der Ent­schei­dung, sich von nun an lie­ber indi­rekt zu äußern, steht das Gefühl (oder schon die  Ein­sicht), daß es nicht mehr zuträg­lich sei, das, was gesagt wer­den soll, ein­fach zu sagen: ein­deu­tig und klar und unmißverständlich.

“Kürz­lich”, schreibt Moni­ka Maron, “erzähl­te ich einem Freund, ich fühl­te mich beim Schrei­ben zuwei­len wie frü­her, als ich mein ers­tes Buch ‘Flug­asche’ geschrie­ben habe, wie­der gedrängt ins Poli­ti­sche, weil es mich jeden Tag umtreibt, und bedrängt von dem Gedan­ken, was ich mir wohl ein­bro­cke, wenn ich einen Prot­ago­nis­ten mei­nes Buches die­sen oder jenen Satz sagen lasse.”

Die­se Äuße­rung einer erfah­re­nen, vor allem dik­ta­tur­er­fah­re­nen Schrift­stel­le­rin, führt zu der Fra­ge, ob es heu­te auch (also wie­der) die Not­wen­dig­keit zu einer inne­ren Emi­gra­ti­on gebe – und damit wahr­nehm­ba­re lite­ra­ri­sche Zeug­nis­se einer wie­der­be­leb­ten Gattung.

Ist es so, daß sich The­men auf­drän­gen, daß eigent­lich über die­se oder jene Unge­heu­er­lich­keit sehr drin­gend geschrie­ben und gespro­chen wer­den müß­te, daß aber zugleich Form und Spra­che, in denen noch ver­han­delt wer­den kann, einer Grat­wan­de­rung glei­chen? Muß man sich als bereits aner­kann­te, also im lite­ra­ri­schen Betrieb der BRD arri­vier­te Autorin, (und somit als jemand, der noch “etwas zu ver­lie­ren hat”) nun im Moment des Sagens und Schrei­bens zwi­schen Tar­nung und Offen­heit, Camou­fla­ge und Signal­far­be entscheiden?

Moni­ka Maron spielt mit ihrer Beschrei­bung einer neu­en Unsi­cher­heit wäh­rend des Schreib­vor­gangs auf ihren jüngs­ten Roman an. Munin oder Cha­os im Kopf erschien Anfang 2018, Ellen Kositza und Susan­ne Dagen haben das Buch im Rah­men ihrer Lite­ra­tur­sen­dung “Auf­ge­blät­tert. Zuge­schla­gen” bespro­chen, unse­re Zeit­schrift hat es rezensiert.

Chao­tisch sind in Marons Roman drei Schich­ten: Den Hin­ter­grund bil­den gesell­schaft­li­che Zustän­de und Ent­wick­lun­gen, an denen “die mensch­li­che Ver­nunft zu schei­tern droh­te”: Die Angst, daß die Vor­ah­nun­gen sich erfül­len könn­ten, ist gegen­wär­tig, das Wort “Vor­kriegs­zeit” im Umlauf, aber alles ist doch zu vage und fern, als daß es ein­deu­tig wäre und tat­säch­lich ele­men­tar ins Leben eingriffe.

Vor die­sem dunk­len Him­mel wid­met sich die Ich-Erzäh­le­rin einer Auf­trags­ar­beit: Sie soll die Geschich­te einer Stadt wäh­rend des Drei­ßig­jäh­ri­gen Krie­ges schrei­ben, schafft es aber nicht recht, die chao­ti­schen Krie­ge im Krieg, die Unein­deu­tig­kei­ten der Bünd­nis­se und Ver­läu­fe zu ord­nen und dar­aus etwas für die Stadt abzu­lei­ten, in deren Auf­trag sie arbei­tet. Erst als sie das lapi­da­re Kriegs­ta­ge­buch eines Lands­knechts stu­diert, kann sie auf einer für sie faß­ba­ren Ebe­ne schrei­ben: dem Schick­sal und der inne­ren Ver­sehrt­heit eines Man­nes, den sei­ne chao­ti­sche Zeit, eine “Wolfs­zeit”, schwer ver­wun­de­te und form­te und der unter Umstän­den, die “von der Ver­nunft hät­ten erfaßt wer­den kön­nen”, ganz sicher ein ganz ande­rer gewor­den wäre.

Die­se Spie­ge­lung der Vor­kriegs­zeit unse­rer Tage in den Vor­kriegs- und Kriegs­jah­ren des Drei­ßig­jäh­ri­gen Krie­ges wird von Maron noch ein­mal unter einem Brenn­glas ver­dich­tet: Die Ruhe in der klei­nen Neben­stra­ße der Haupt­per­son ist nicht etwa dahin, weil die gro­ßen Umwäl­zun­gen und Gesell­schafts­expe­ri­men­te ihren Bewoh­ner zusetz­ten, son­dern weil es da eine Frau gibt, die Tag für Tag auf ihren Bal­kon tritt und schrill und schräg singt, vor allem dann, wenn sie jeman­den erspäht. Man wird die­ser unaus­ge­setz­ten Beläs­ti­gung nicht Herr, weder juris­tisch noch durch gutes Zure­den oder mit Droh­ge­bär­den, man muß ertra­gen, was kaum zu ertra­gen ist und muß aus­wei­chen, weil man nichts aus­rich­ten  – sich weh­ren? zuschla­gen? töten? – kann.

Die Erzäh­le­rin stellt ihr Leben auf den Kopf, schläft tags, arbei­tet nachts, paßt sich völ­lig den neu­en Umstän­den an, und das kann sie nur, weil sie allein, unab­hän­gig, kin­der­los ist, also: nicht um ein nor­ma­les Leben, um Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten kämp­fen muß. Mit den ande­ren Anwoh­nern trifft sie sich zwei Mal zu einer Ver­samm­lung, aber sie ver­spürt kei­ne Soli­da­ri­tät und beob­ach­tet nur, daß man sich nicht einig wird: Es kommt zum Riß, der Wut­bür­ger tritt auf, Deutsch­land­fah­nen hän­gen aus Fens­tern, instink­tiv ver­knüpft man die klei­ne­re Hilf­lo­sig­keit in der Stra­ße mit der gro­ße Hilf­lo­sig­keit ange­sichts des gro­ßen Umbaus.

Man­ches in Marons Roman ist also expli­zit, aber wie als fer­ner Hori­zont beschrie­ben, man­ches his­to­risch gespie­gelt, man­ches in eine absur­de Sze­ne­rie ver­legt. Alle drei Metho­den waren und sind Anspie­lungs­for­men der “Inne­ren Emi­gra­ti­on”, also einer Lite­ra­tur, die auf­grund einer im Autor wirk­mäch­ti­gen Sor­ge um sozia­le Unver­sehrt­heit kri­ti­sche Deu­tungs­ebe­nen ein­zieht, auf die er nicht fest­ge­na­gelt wer­den kann.

Es gibt wei­te­re Wer­ke aus jüngs­ter Zeit, in denen wahr­neh­mungs­fä­hi­ge Leser sol­che Deu­tungs­ebe­nen ent­de­cken könn­ten – zwi­schen den Zei­len also einen Sub­text. Nicht jeder Autor geht dabei so weit wie Moni­ka Maron, die nicht nur in ihrem Text vom gal­li­gen Geläch­ter Ein­blick in ihre Ver­faßt­heit und ihre schrift­stel­le­ri­sche Ver­fah­rens­wei­se gibt.

Eugen Ruge bei­spiels­wei­se hat im Okto­ber mit Metro­pol einen Roman vor­ge­legt, in dem er am Bei­spiel sei­ner Groß­mutter die ent­setz­li­che Herr­schaft des Ver­dachts in Mos­kau zur Zeit der sta­li­nis­ti­schen Schau­pro­zes­se schil­dert – die Selbst­durch­stö­be­rung lini­en­treu­er Kader, die in sich nach letz­ten Gedan­ken­ver­bre­chen such­ten, um sich kom­plett auf Linie zu brin­gen: eine Gesell­schaft im ideo­lo­gi­schen Hygie­ne­wahn, moral­po­li­tisch eli­mi­na­to­risch auf­ge­la­den, erbar­mungs­los, im Zug­zwang. Im Ver­lauf einer Lesung an einem der Buch­mes­sen­ta­ge in Frank­furt beug­te sich Ruge nach vorn, als es sich der Mode­ra­tor mit der Äuße­rung bequem mach­te, daß so etwas heu­te undenk­bar sei: Ist das so? Sind wir uns da ganz sicher?

Das sind Andeu­tun­gen, Lese­hin­wei­se, und Ruge könn­te im Zwei­fels­fall immer sagen, er habe das Auf­kom­men der AfD gemeint. Näher liegt aber, daß er die Ver­ban­nung rech­ter Ver­la­ge in Sack­gas­sen mein­te, oder das, was sei­nem Kol­le­gen Uwe Tell­kamp wider­fährt: die Ver­su­che einer von Hygie­ne­zwän­gen geplag­ten Gesell­schaft, dem Autor des Turms (die­sem Denk­mal für das nach Innen emi­grier­te Dresd­ner Bür­ger­tum) den Ver­lag zu nehmen.

Daß Suhr­kamp stand­haft blieb, daß auf die Distan­zie­rung des Ver­lags auf Twit­ter kei­ne Auf­lö­sung des Ver­trags mit Tell­kamp über des­sen gera­de fer­tig­ge­stell­ten Roman folg­te – wor­an mag das lie­gen? Es liegt wohl am Poten­ti­al Tell­kamps: Für man­ches Buch wünscht sich man­cher Ver­lag wohl ins­ge­heim einen so hand­fes­ten poli­ti­schen Skan­dal, in des­sen Ver­lauf zehn­mal mehr Leser als sonst zum Buche greifen.

Daher eine Pro­gno­se: Es ist noch nicht wie­der so weit, aber wir sind auf einem schlech­ten Weg hin zu einer neu­en “Inne­ren Emi­gra­ti­on”, einer Lite­ra­tur zwi­schen den Zei­len, die unter frei­heit­lich-demo­kra­ti­schen Bedin­gun­gen natür­lich ganz anders aus­se­hen wird als unter totalitären …

Auf dem Weg dort­hin aber fin­det ein Wett­lauf statt, und unse­re Hoff­nung liegt in den­je­ni­gen Autoren, die nun zum Sprint anset­zen. Wenn sie es vor den Denun­zi­an­ten und Kaputt­ma­chern an die Tür schaf­fen, wer­den sie sie zuschla­gen und sich davor­stel­len: Nein, wer­den sie sagen, es ist nicht not­wen­dig, nach Innen oder sonst irgend­wo­hin zu emi­grie­ren. Wir und unse­re Leser sor­gen dafür.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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Kommentare (15)

Gustav Grambauer

23. Oktober 2020 17:39

Hier der pessimistische Teil:

Ei, was lese ich da gerade in Wikipedia über, ich zitiere mit Interpunktion, "Die Affaire S.Fischer-Maron" im Hinblick auf die Privatautonomie von Frau Maron (bitte mit dem Seitensucher auf "Horbach" gehen) - ja, woran woran denken wir denn da?!

Ab 5:50.

Oder wir denken an die Mutter von Vera Oelschlegel, wobei die Tochter neben Frau Maron gleich ein weiteres - hochaufschlußreiches, hier im Zusammenhang vieles erklärendes - Beispiel für eine Szondi`sche familiäre Negation bietet.

- G. G.

Gustav Grambauer

23. Oktober 2020 17:43

Und hier der optimistische Teil:

Die Zensur wurde innerhalb (!) der staatlichen Gremien zunehmend unterlaufen, bestes Beispiel hier, welcher jeweils höherrangige KuFu (Kulturfunktionär) will schon etwas gegen Metaphern für die gesellschaftliche Befreiung des Proletariats oder gar gegen Neruda (wobei dessen Ode im spanischen Original dem ziellosen (!) Albatros gewidmet war), etwas einwenden, oder z. B. gegen die sozialistische Erberezeption an "unseren" Sakralbauten, wobei spätestens bei der Zeile

"Tritt ein in den Dom, kleiner Mensch, tritt ein"

ja alle "Erziehung zur Wachsamkeit" versagt haben muß.

- G. G.

Gustav Grambauer

23. Oktober 2020 18:26

Es gibt aber einen wesentlichen Unterschied:

Die damalige Zensur diente maßgeblich der Pflege des Egregors der DDR; weit, weit vorrangig sollten mir ihr dessen Beschädigungen abgewendet werden. Die martialische, düstere, enge, schwere, gedrückte, kalte, triste Atmosphäre förderd war die Zensur andererseits Mittel zur unmittelbaren Stärkung des Egregor-Kraftfeldes mit ebendiesen Eigenschaften.

Das heutige System hingegen tritt nur noch vage als geschlossene Formation auf, hat somit auch keinen Egregor.

Womöglich wird u. a. mit der heutigen Zensur eine Transformation in eine geschlossene Formation vorbereitet bzw. ein Egregor soll u. a. mit ihr evoziert werden?

- G. G.

Nordlicht

23. Oktober 2020 19:57

Marons letzten Roman ("Arthur Lanz") habe ich mit Genuss gelesen; auch sonst ist mir die Autorin sympatisch.

Dies vorausgeschickt möchte ich die Merkwürdigkeit erwähnen, dass sie auch aus einer Familie eines ehemaligen DDR-Spitzenfunktionär stammt, was man an Kleinigkeiten merkt. Sie hat weder zuhause, von Klein-Kind an, das Verschweigen-Müssen gelernt, noch haben sie die Ausgrenzungen erlitten, die ein Kind erfährt, wenn es NICHT z den Jungen Pionieren geht und NICHT zur FDJ, sondern zB zur Jungen Gemeinde.

Ähnliches ist mir bei den Texten von Chaim (Hans) Noll aufgefallen, auch Vera Lengsfeld wuchs im Mileu der SED-Kader auf. 

Möglicherweise hat die (System-)Sicherheit und die Angstfreiheit, die diese Menschen als Kinder hatten, sie in die Lage versetzt, als junge Erwachsene rebellisch zu weden und dies bis heute durchzuhalten. Wer bereits als kleines Kind, so meine Thesen, von den ängstlichen Eltern zum (Ver-)Schweigen und zur Vorsicht gedrillt wurde, ja weden musste, legt dies mE auch später nicht ab.

Nemo Obligatur

23. Oktober 2020 20:01

Eben lese ich bei Alexander Wendt "...in einem politischen Dossier heißt es weiter: 'Maron sprang 2018 ihrem Kollegen Uwe Tellkamp zur Seite, als dieser sich mit seinen Aussagen zur Flüchtlingspolitik und Meinungsfreiheit stark nach rechts vergaloppierte.' Den Vorwurf, irgendein Autor hätte sich stark nach links vergaloppiert, kann man übrigens im deutschsprachigen Raum und nicht nur dort lange suchen, ohne irgendeinen Textbeleg zu ergattern."

Aber natürlich, das ist es! Deswegen haben wir keinen "Meinungskorridor" in Deutschland: Weil nach links beliebig viel Platz ist!

limes

23. Oktober 2020 22:16

»Im Märchen platzt das öffentlich heraus, in der Phase des Zusammenbruchs von Diktaturen auch, aber zuvor wird schon im Verborgenen gedacht und gelacht, und öffentlich wird angedeutet, zwischen den Zeilen geschrieben, die Grenze des Sagbaren ausgereizt.«

Aber zuvor wird schon im Verborgenen gedacht …?

Vor ein paar Tagen hatte ich es mit einem Handwerker zu tun, der – wie alle Handwerker – selbstverständlich ohne Maske das Haus betrat. Er erwies sich als Skeptiker der »Corona«-Panik, aber als es um die politischen Maßnahmen ging, wich er aus: »Man weiß ja gar nicht mehr, was man noch sagen darf, was man noch denken darf«. Mit meiner leidenschaftlichen Erwiderung, dass ich denke, was ich will, und dass ich es als demokratische Pflicht erachte, dies auch zu sagen, wenn demokratiewidrige Tendenzen zu erkennen sind, habe ich ihn verschreckt.

Ein anderer, dieser nicht gerade das hellste Licht auf der Torte, fühlt sich dem Buddhismus verbunden, weil der es nicht gestatte, die Verantwortung auf einen Gott abzuwälzen. Jeder erfahre durch »Karma« automatisch, was ihm gebührt. Auf meine Frage, was der Franzose Samuel Paty wohl falsch gemacht habe, dass er geköpft wurde, hatte er nur ein Achselzucken übrig: »Das kann man nicht wissen.«

Sieht für mich danach aus, dass der Druck, der zum Herausplatzen führt, noch so lange nicht erreicht wird, wie die liberale Lifestylegesellschaft noch Rückzugsmöglichkeiten bietet.

limes

23. Oktober 2020 22:22

GK berichtet über Marons Romanfigur: »Mit den anderen Anwohnern trifft sie sich zwei Mal zu einer Versammlung, aber sie verspürt keine Solidarität …«

Ähnliche Szenen schreibt das Leben: An einer realen Bürgerversammlung habe ich ein Weilchen vor »Corona« teilgenommen. Die zaghafte Solidarität der Bürger verdampfte im Angesicht der bräsigen, machtbewussten baden-württembergischen Grünen-Herrschaften auf dem Provinzpodium, die regionale Lösungsmöglichkeiten von Problemen weit von sich wiesen und erklärten, nur die EU könne den Bürgern bei ihren Problemen helfen.

RMH

24. Oktober 2020 08:55

Ich gebe jetzt mal den Verelendung-als-Revolutionsmotor-Akzelerationisten:

Im Grunde ist es gut so, wenn die McCarthies gegen Rechts in den Verlagen kräftig ausmisten und sich von allem trennen, was nicht opportun ist. Gerade bei den Künstlern und Geistesschafenden, die den bereits vor Jahren erfolgten "Schuss" noch nicht gehört haben. In dem ihnen die Stühle vor die Tür gesetzt werden, werden sie von ihren eigenen Lebenslügen, zu denen auch gehört, sie würden ja irgendwie doch "dazu gehören" befreit. Zurückgeworfen auf ihre Existenz, finden sie dann evtl. ins Milieu des Widerständigen. Verlage, die sie aufnehmen könnten, gibt es ja bspw. schon einige. Wer dann aber noch irgendwie herum zickt, "Ach, eigentlich bin ich ja doch nicht so", dem bleibt nur zu wünschen übrig, dass er in seinem bisherigen Leben genug Kohle verdient hat, damit er sich ins Private zurückziehen kann und damit dann das systemkonform sein Maul hält. Er darf dann aber mit dem Vorwurf rechnen, genauso für das System jetzt zu schweigen, wie er zuvor systemopportun veröffentlich hat - einmal Systemdiener, immer Systemdiener.

Also, liebe Intellektuellen, liebe Künstler: Wenn nicht jetzt einen Schnitt machen, ehrlich zu sich sein und das Lager wechseln, wann dann?

Maiordomus

24. Oktober 2020 09:39

Hielt Maron schon vor 40 Jahren für eine bedeutende Autorin, wenngleich nicht gerade das Format von G. de Bruyn; das mit der Kontaktschuld als Anlass zum Rauswurf ist und bleibt eine totalitäre Schweinerei. Der Kommentar von Kubitschek ist bedenkenswert; es bleibt auch dabei, dass das neue gedruckte Heft Sezession zumal mit den Buchrezensionen wohl zu den fünf besten geistig orientierten Zeitschriften im deutschen Sprachraum zu zählen ist. Letztlich stehe ich geistig und philosophisch, nicht unähnlich meiner Gesinnungsfreundin @Monika, wohl auch aus Gründen der eigenen geistigen Biographie nicht auf der Linie des Verlags, so wie ich sicher nicht auf der "Linie" der Neuen Zürcher Zeitung, der Weltwoche oder der Welt stehe. Aber schon mit dieser Haltung des moralischen und intellektuellen  Ernstnehmens einer immerhin errungenen Qualität, die in der Geschichte der deutschen Rechten ihren achtenswerten Platz hat,  steht man  ausserhalb der  "Konsens-Objektivität". Der Ausschluss aus der Verlagsszene von Maron ist die fast sichere Folge. Noch "interessant" die "Zeit" mit wohlwollender Besprechung von Herrn Lethens neuem Buch mit dem freilich untragbaren Ärgernis von dessen Frau; unbeschadet dass sich dieselbe nie auch nur annähernd so extremistisch äusserte wie auch nur Rosa Luxemburg oder die Gattin von O. Lafontaine.  

Franz Bettinger

24. Oktober 2020 12:43

Lachen ist eine Form des Widerstandes. "If you want to tell people the truth, make them laugh, otherwise they'll kill you“ (Oscar Wilde). Ja. Lacht sie aus, diese hässlichen nackten Elitioten! Lachen macht frei. Beispiele: "Inzwischen sind mehr Menschen an Corona verblödet als verstorben.“ Oder: "Die Maske schützt zwar nicht vor Viren, aber vor staatlicher Verfolgung.“ Angst hingegen lähmt und macht krank. Es kann nicht nur Sinn machen, sondern Spaß, zu den 300 Spartanern zu gehören. 

Franz Bettinger

24. Oktober 2020 12:53

Schwarzer Humor à la Sven Liebich. Schnell abspeichern bevor es gelöscht wird (besonders gut ab 4'30''):

https://www.youtube.com/watch?v=TXvu0UF1AaE&feature=youtu.be

Ein gebuertiger Hesse

24. Oktober 2020 14:10

@ Franz Bettinger

"Es kann nicht nur Sinn machen, sondern Spaß, zu den 300 Spartanern zu gehören."

Endlich sagt's mal einer. Jener Spaß (auch wenn es noch schwerfallen mag, das Wort hier nicht in Anführungszeichen zu setzen) verleiht Standfestigkeit und läßt einen tiefer und freier durchatmen.

ede

25. Oktober 2020 00:17

Ja, den Typus Fettauge gibt es natürlich immer und überall. Er tritt aber im Gegensatz zur guten alten DDR deutlich vorlauter auf. Die sogenannte innere Emigration war nicht so einsam wie man meinen könnte, wenn man sich davon ein Bild machen muß. Denn eine klare Mehrheit fand den Westen attraktiver, auch unter Genossen.

Niemand wäre auf die geradezu absurde Idee gekommen ein Mädchen damit zu beeindrucken, dass man bei der Stasi wäre. Das ist heute fundamental anders. Die Gesellschaft "denkt" deutlich inhomogener. 

Phil

25. Oktober 2020 11:26

Galliges Gelächter nahm bei mir schon mal die Form von halb-irrem Auslachen an.

Wer bei Telegram ist: der Kanal Gutmenschenkeule bringt rechte Memes.

Monika

25. Oktober 2020 11:53

 Ja, Erinnerungen an die DDR stellen sich ein bezüglich des Umgangs mit systemkritischer Literatur. In seinem Essay „Schubladen-Mut oder Die Unwilligkeit zu trauern“ (1990) in seinem Buch GEWISSEN IST MACHT schreibt der großartige Ulrich Schacht über das fast totale Fehlen einer moralischen Infrastruktur im Intellektuellen- und Künstlermilieu der DDR. Zitat: „Die Mehrheit der DDR-Intellektuellen waren in der Regel aus ideologischen Gründen, die sich durchaus mit pekuniären trafen, Prototypen der Gesinnungslosigkeit und standen ...mit einer granitenen Feigheit auf dem Boden der Realität, was zugleich die Garantie dafür war...erfolgreich zu sein. Was sie alle in diesem Streite trifft, ist die schlichte Wahrheit, dass sie ein verlogenes Leben gelebt haben. Die einen mehr. Die anderen weniger. Die einen als domestizierte „Oppositionelle“. Die anderen als Experten und Exekutoren des Apparates der Peitschenbüttel und Zuckersäcke.“   

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