Botho Strauß – der Chronist des Untergangs

pdf der Druckfassung aus Sezession 33 / Dezember 2009

von Thorsten Hinz

Von Botho Strauß, der am 2. Dezember fünfundsechzig wird, ist ein neues Buch erschienen: Vom Aufenthalt enthält Szenen, die ein Selbstbild des Autors nahelegen. Im ersten Abschnitt ist von einem Mann die Rede, der nach vielen Jahren aus der Fremde heimkehrt, die Reise aber unterbrechen muß, weil in seinem Land ein Putsch stattgefunden hat und die Grenzen geschlossen sind. Nun hockt er im Wartesaal des Grenzbahnhofs. Die wenigen Mitreisenden sind zu jung, als daß er sie kennen oder von ihnen gekannt werden könnte. »Das ist dann der Aufenthalt, er könnte länger dauern. « Eine andere Passage handelt vom Botschafter eines vergessenen Landes, den niemand mehr einlädt und der Verklärungen über den versunkenen, zum Fabelreich gewordenen Staat verfaßt. »Er bleibt auf seinem Posten, der letzte der Vereinzelung. Nach ihm nur noch: die Minderheiten.«

Die Eigen­ar­ten des Den­kens, der Poe­tik und der öffent­li­chen Posi­ti­on des Botho Strauß sind damit ange­deu­tet: die Vor­lie­be für die Para­bel; das Wis­sen um den ver­lo­re­nen Pos­ten, das die Wahr­neh­mung um so luzi­der macht; die dia­lek­ti­sche Auf­he­bung einer Gesell­schafts­kri­tik, die insti­tu­tio­na­li­siert und dog­ma­tisch gewor­den ist und trotz­dem auf ihrem ver­meint­li­chen kri­ti­schen Poten­ti­al beharrt; das Ver­trau­en in den abge­son­der­ten Ein­zel­nen und par­al­lel dazu die Distanz zur aus­dif­fe­ren­zier­ten Gesell­schaft, die im Lob­ge­sang auf die Min­der­hei­ten sich sel­ber fei­ert. Denn deren Bedeu­tung erschöpft sich längst in der Per­fek­tio­nie­rung der Inter­es­sen­ver­tre­tung, der Sub­ven­ti­ons­jagd, des Gruppendrucks.
Geschicht­li­che und deutsch­land­po­li­ti­sche Dimen­sio­nen eröff­nen sich, wenn Strauß zwei­hun­dert Sei­ten spä­ter über das Gros der DDR-Autoren schreibt: »Ver­geb­li­cher Streit um ein ver­geb­li­ches Land. Ärmel­scho­ner-Exis­tenz, geis­tig gese­hen. Gleich­wohl: Welch ein Auf­ent­halt. Welch eine Ver­samm­lung wider die Zeit! Welch ein Dila­to­ri­um!« Die Prä­zi­sie­rung des »Auf­ent­halts« als »Auf­schub« gilt auch rück­wir­kend, und der Befund, in einer gestun­de­ten Zeit zu leben, somit für den Wes­ten. Die im Kal­ten Krieg feind­lich ver­bun­de­nen Sys­te­me waren zwei For­men des Nach­kriegs­in­ter­regn­ums im geschicht­li­chen Nie­mands­land. Als die DDR ohne es zu wis­sen in den letz­ten Zügen lag, geriet Vol­ker Brauns Dra­ma Die Über­gangs­ge­sell­schaft zum Tri­umph. Die ande­re Über­gangs­ge­sell­schaft, das Gene­ral­the­ma von Strauß, dau­ert an.
Wer aus sol­cher Per­spek­ti­ve auf die Gegen­wart blickt, zieht Befrem­dung und Ver­ein­sa­mung auf sich. Immer­hin ist die Ein­gangs­sze­ne des Auf­ent­halts nicht ganz ohne Hoff­nung. Die Mög­lich­keit bleibt offen, daß die jun­gen Mit­rei­sen­den – »die viel­leicht aus sei­nem Geburts­ort stam­men« – eines Tages in ihm jenen Ein­zel­nen erken­nen und schät­zen wer­den, der die Sezes­si­on gewagt hat. Sezes­si­on bedeu­tet hier: Strauß zählt zu den weni­gen Intel­lek­tu­el­len, die als Kin­der der Bun­des­re­pu­blik auf- und sou­ve­rän über sie hin­aus­ge­wach­sen sind.
Das Geburts­jahr 1944 stellt ihn in die Gene­ra­ti­on der 68er. Das Stu­di­um der Sozio­lo­gie, Ger­ma­nis­tik, Thea­ter­ge­schich­te, der Stu­di­en­ab­bruch, die Arbeit bei der Zeit­schrift Thea­ter heu­te pas­sen in den Rah­men. Peter Steins legen­dä­re Schau­büh­ne in Ber­lin, wo Strauß seit 1970 als Dra­ma­turg wirk­te, war ursprüng­lich eben­falls von der 68er-Bewe­gung inspi­riert. Durch die Mit­spra­che der künst­le­ri­schen Mit­ar­bei­ter bei der Stück­aus­wahl und Spiel­plan­po­li­tik soll­te eine Alter­na­ti­ve zum her­kömm­li­chen Stadt­thea­ter ent­ste­hen. Poli­ti­sche Akzen­te wur­den mit Enzens­ber­gers Ver­hör von Haba­na oder mit dem Revo­lu­ti­ons­stück Opti­mis­ti­sche Tra­gö­die von Wsewo­lod Wisch­new­s­ki gesetzt. Das heißt: Der »Dich­ter der Gegen-Auf­klä­rung« (Micha­el Wies­berg) kennt das sozia­le Bio­top, die Denk­struk­tu­ren und Funk­ti­ons­wei­se der bun­des­deut­schen Auf­klä­rer-Sze­ne aus eige­ner, inti­mer Anschauung.

Das Per­so­nal sei­ner Dra­men, Roma­ne, tage­buch­ar­ti­gen Refle­xio­nen und Betrach­tun­gen sind Intel­lek­tu­el­le, Aka­de­mi­ker, Künst­ler und Stu­den­ten, die ihre Kom­ple­xe, Reiz­bar­kei­ten, Gesin­nun­gen aus­le­ben. In ihrer Beschränkt­heit kön­nen sie nicht anders, als selbst Vis­con­tis genia­le »Leopard«-Verfilmung »an ihrem eige­nen her­un­ter­de­mo­kra­ti­sier­ten, form­lo­sen Gesell­schafts­be­wußt­sein (zu) mes­sen. Dabei spürt man zugleich, wie wenig noch an Kraft, Zorn, Rich­tung hin­ter sol­chen Ent­wür­fen steckt.« (Paa­re, Pas­san­ten, 1981) Im Büh­nen­stück Tri­lo­gie des Wie­der­se­hens (1977) wer­den die ent­spre­chen­den Figu­ren durch Oxy­mo­ra bezeich­net: »Wiß­be­gie­rig gleich­gül­tig, erstaunt erschöpft, nach­denk­lich dumm.« Letz­te Men­schen halt. Die Kri­tik an der Gesell­schaft stei­gert sich von Werk zu Werk bis zum Bewußt­sein ihrer Aus­weg- und Zukunfts­lo­sig­keit. Im Büh­nen­stück Die eine und die ande­re (2004) trägt das Jus­te milieu mitt­ler­wei­le Kom­pres­si­ons­strümp­fe, zeigt sei­ne Wun­den vor, ohne sie zu begrei­fen. Die Toch­ter der »einen« läßt sich in Kunst­ak­tio­nen ver­wun­den, um in der Zom­bie­welt über­haupt mal etwas zu spü­ren. In magi­schen Momen­ten ver­wan­delt ihre Kunst sich in eine mythi­sche Figur, die aus tie­fe­ren Sphä­ren schöpft. Ihr Name: Elai­ne, ein Ana­gramm aus »Ali­en«. Soll hei­ßen: Die Erlö­sung muß von anders­wo­her kommen!
Fol­ge­rich­tig wid­me­te sich Strauß ver­stärkt der Essay­is­tik. Im Nach­wort zu Geor­ge Stei­ners Von rea­ler Gegen­wart (1990) deu­te­te er den Zusam­men­bruch des Kom­mu­nis­mus als »die nega­ti­ve Offen­ba­rung einer ver­fehl­ten, welt­li­chen Sote­rio­lo­gie: Alles falsch von Anbe­ginn!«, und er ver­mu­te­te, daß die Kon­kur­renz­lo­sig­keit der west­li­chen Welt »sich in Zukunft gegen ihr eige­nes Prin­zip« wen­den wür­de. Im Febru­ar 1993 ver­öf­fent­lich­te der Spie­gel den Anschwel­len­den Bocks­ge­sang. Im ers­ten Satz gesteht Strauß sei­ne Bewun­de­rung für die Kom­ple­xi­tät der »frei­en Gesell­schaft«, um dann ihre – viel­leicht leta­le – Sys­tem­kri­se zu dia­gnos­ti­zie­ren. Als größ­te der inne­ren Gefah­ren erscheint die Schrump­fung des west­li­chen »Men­schen« zum auf­ge­klär­ten, den Mas­sen­wohl­stand vor­aus­set­zen­den »Staats­bür­ger«, der ohne kul­tu­rel­le und reli­giö­se Fer­n­erin­ne­rung dahin­däm­mert. Dem ampu­tier­ten Geschichts­be­wußt­sein ent­spricht sei­ne geschrumpf­te Vor­stel­lung künf­ti­ger Mög­lich­kei­ten. Sie schließt den Ernst­fall aus und erschöpft sich in Sozi­al­tech­nik. Bis hier­her war die Argu­men­ta­ti­on für die Öffent­lich­keit noch tole­ra­bel. Mit dem Vor­wurf aber, ein »immer rück­sichts­lo­se­rer« Libe­ra­lis­mus ver­höh­ne und demon­tie­re das »Eige­ne« – Eros, Sol­da­ten­tum, Kir­che, Auto­ri­tät, Tra­di­ti­on –, über­schritt der Dich­ter eine Front­li­nie, des­glei­chen mit der Fra­ge, wor­aus denn die »freie Gesell­schaft« im Kon­flikt mit dem »Frem­den « ihre Kraft zur Selbst­be­haup­tung noch schöp­fen wolle.
Mit dem Angriff auf die »Total­herr­schaft der Gegen­wart« schrieb er Nova­lis’ Kri­tik am »moder­nen Unglau­ben« fort. Des­sen Anhän­ger, so der Früh­ro­man­ti­ker, sei­en unab­läs­sig damit beschäf­tigt, »die Natur, den Erd­bo­den, die mensch­li­chen See­len und die Wis­sen­schaf­ten von der Poe­sie zu säu­bern, – jede Spur des Hei­li­gen zu ver­til­gen, das Andenken an alle erhe­ben­den Vor­fäl­le und Men­schen durch Sar­kas­men zu ver­lei­den« und »die Zuflucht zur Geschich­te abzuschneiden«.

Der Vor­wurf der Moder­ne- und Geist­feind­lich­keit, der des­we­gen gegen Stauß vor­ge­bracht wird, läßt sich leicht mit Ador­nos und Hork­hei­mers Fest­stel­lung wider­le­gen, daß der Mythos, gegen den die Auf­klä­rer ange­hen, ja bereits ein Stück Auf­klä­rung dar­stellt. Eine mecha­ni­sier­te Auf­klä­rung ist also »tota­li­tär«, denn je wei­ter durch sie »die magi­sche Illu­si­on ent­schwin­det, um so uner­bitt­li­cher hält Wie­der­ho­lung unter dem Titel Gesetz­lich­keit den Men­schen in jenem Kreis­lauf fest, durch des­sen Ver­ge­gen­ständ­li­chung im Natur­ge­setz er sich als frei­es Sub­jekt gesi­chert wähnt«. Im Grun­de zieht Strauß die Kon­se­quenz aus der Dia­lek­tik der Auf­klä­rung, wenn er schreibt: »Der Reak­tio­när ist eben nicht der Auf­hal­ter oder unver­bes­ser­li­cher Rück­schritt­ler, zu dem ihn die poli­ti­sche Denun­zia­ti­on macht – er schrei­tet im Gegen­teil vor­an, wenn es dar­um geht, etwas Ver­ges­se­nes wie­der in die Erin­ne­rung zu bringen.«
Wäh­rend noch die Fuku­y­ma-The­se vom Ende der Geschich­te dis­ku­tiert wur­de, die der west­li­che Sieg im Kal­ten Krieg mar­kie­re, kon­sta­tier­te Strauß ange­sichts der mas­sen­haf­ten Armuts­wan­de­rung nach Deutsch­land: »Da die Geschich­te nicht auf­ge­hört hat, ihre tra­gi­schen Dis­po­si­tio­nen zu tref­fen, kann nie­mand vor­aus­se­hen, ob unse­re Gewalt­lo­sig­keit den Krieg nicht bloß auf unse­re Kin­der ver­schleppt.« Die Tumul­te vor Asy­lan­ten­hei­men und die in Brand gesetz­ten Wohn­stät­ten mus­li­mi­scher Aus­län­der, für die man Neo­na­zis ver­ant­wort­lich mach­te, sei­en der »Ter­ror des Vor­ge­fühls «. Das emble­ma­tisch hoch­ge­hal­te­ne »Deut­sche« sei die Chif­fre für die »welt­ge­schicht­li­che Tur­bu­lenz, den sphä­ri­schen Druck von Macht­lo­sig­keit«, für »Tabu­ver­let­zung und Eman­zi­pa­ti­on in spä­ter Abfol­ge und unter umge­kehr­ten Vor­zei­chen«, mit­hin ein Reflex auf den indok­tri­nier­ten »Vater­haß « und den »liber­tä­ren bis psy­cho­pa­thi­schen Anti­fa­schis­mus«. Gegen die Medi­en, die von »gut schrei­ben kön­nen­den Analpha­be­ten« beherrscht wür­den, insis­tier­te er, »daß die magi­schen Orte der Abson­de­rung, daß ein ver­spreng­tes Häuf­lein von inspi­rier­ten Nicht­ein­ver­stan­de­nen für den Erhalt des all­ge­mei­nen Ver­stän­di­gungs­sys­tems uner­läß­lich ist«.
Der Auf­satz lös­te einen Medi­ensturm aus, der sich noch stei­ger­te, als er 1994 in den Sam­mel­band Die selbst­be­wuß­te Nati­on auf­ge­nom­men wur­de, den kon­ser­va­ti­ve Publi­zis­ten, His­to­ri­ker und Jour­na­lis­ten ver­öf­fent­lich­ten. Der Sozio­lo­ge Ste­fan Breu­er, der sich mit der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on beschäf­tig­te, sah Botho Strauß durch »ver­zer­ren­de Effek­te eines gestör­ten und dadurch patho­ge­nen Nar­ziß­mus«, durch »qua­si­re­li­giö­se und sek­ten­för­mi­ge Züge« bestimmt. Der Spie­gel setz­te über ein Foto des Schrift­stel­lers die sug­ges­ti­ve Über­schrift »Lehr­meis­ter des Has­ses«, ohne aller­dings im Text auf die Tot­schlag­zei­le zurück­zu­kom­men. Im media­len Auf­ruhr spie­gel­ten sich die his­to­ri­schen, poli­ti­schen, geis­tig-kul­tu­rel­len Beson­der­hei­ten der Bun­des­re­pu­blik wider, die am auf­fäl­ligs­ten und lau­tes­ten von einem Intel­lek­tu­el­len- und Schrift­stel­ler­ty­pus reprä­sen­tiert wer­den, der ab Ende der fünf­zi­ger Jah­re domi­nier­te und – zumin­des­tens insti­tu­tio­nell – bis heu­te dominiert.

Für Wal­ter Jens, der als Schrift­stel­ler, Kri­ti­ker, Lite­ra­tur­pro­fes­sor, Mit­glied der »Grup­pe 47« und Aka­de­mie­prä­si­dent über gro­ßen Ein­fluß im Kul­tur­be­trieb ver­füg­te, war als Intel­lek­tu­el­ler nur einer denk­bar, der sich in die Tra­di­tio­nen der Auf­klä­rung und der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on stell­te. Als Pro­to­ty­pen mach­te er Hein­rich Hei­ne sowie Rosa Luxem­burg, Hein­rich Mann und Carl von Ossietz­ky nam­haft. Auf Hein­rich Hei­ne bezog sich auch Jür­gen Haber­mas. Die­sen habe an den Früh­ro­man­ti­kern das sozia­le Pro­test­po­ten­ti­al inter­es­siert, Kunst und Wis­sen­schaft sei­en für ihn auto­nom, aber nicht eso­te­risch gewe­sen; daher habe er kei­ne Scheu gehabt, gezielt in die poli­ti­sche Wil­lens­bil­dung ein­zu­grei­fen. Erst in der Bun­des­re­pu­blik habe sein intel­lek­tu­el­les Selbst­ver­ständ­nis sich durch­set­zen kön­nen, weil »1945« eine »geschicht­li­che Distanz« erzwun­gen und ein »refle­xiv gebro­che­nes Ver­hält­nis zu den iden­ti­täts­bil­den­den Über­lie­fe­run­gen und geis­ti­gen For­ma­tio­nen« mit sich gebracht habe. Wäh­rend Hei­nes Zeit­ge­nos­sen noch ein empha­ti­sches Ver­hält­nis zur deut­schen Nati­on pfleg­ten, erkann­te der jüdi­sche Emi­grant aus der Distanz sei­nes Pari­ser Exils »das Mons­trö­se und das Unheim­li­che«, das »auch in unse­ren bes­ten, den unver­lier­ba­ren Tra­di­tio­nen« brü­te­te. – Schär­fer konn­te die Front­stel­lung gegen das »Eige­ne«, auf das Strauß sich berief, nicht sein.
Laut Arnold Geh­len betrie­ben Intel­lek­tu­el­le vom Zuschnitt Hei­nes ledig­lich die radi­ka­le gesin­nungs­ethi­sche Zuspit­zung der Poli­tik, um sie nach den Maß­stä­ben der Fami­li­en­mo­ral neu zu erfin­den. Das Indi­vi­du­um unmit­tel­bar zur Mensch­heit in Bezie­hung zu set­zen und die Staats­na­ti­on als Zwi­schen­in­stanz aus­zu­schal­ten, bedeu­te­te die Zer­stö­rung des poli­ti­schen Den­kens, wie sie nur in defi­ni­tiv besieg­ten Län­dern mög­lich war. Die Links-Intel­lek­tu­el­len betrie­ben dem­nach die Inver­si­on, Ästhe­ti­sie­rung und geschichts­phi­lo­so­phi­sche Über­hö­hung der deut­schen Grund­tat­sa­che nach dem Zwei­ten Welt­krieg – durch­aus im Ein­ver­ständ­nis mit der Mehr­heit der Bür­ger. Denn die­se fühl­ten eine schwe­re poli­ti­sche Ver­ant­wor­tung von ihren Schul­tern genom­men, zwei­tens war der poli­ti­sche Dis­pens mit Mas­sen­wohl­stand ver­bun­den. Von den gebro­che­nen Auto­ri­tä­ten des Staa­tes gab es kaum Gegen­wehr, die anti­fa­schis­tisch auf­ge­la­de­ne Kri­tik an ihnen blieb gefahr­los und ver­hieß gesell­schaft­li­chen und sozia­len Auf­stieg. Und wenn den Künst­lern und Intel­lek­tu­el­len dabei die »hoch­sen­si­ble, dif­fe­ren­zier­te Kul­ti­viert­heit, wie sie bei Proust oder Musil vor­ge­führt wur­de« (A. Geh­len), abhan­den kam, konn­te dies sogar zur kul­tur­re­vo­lu­tio­nä­ren und antie­li­tä­ren Eman­zi­pa­ti­on umge­wer­tet werden.
Hel­mut Schelsky füg­te hin­zu, die Intel­lek­tu­el­len sei­en in die Funk­ti­on von »Sinn­pro­du­zen­ten« gerückt, die mit einer Syn­the­se aus Sozio­lo­gie, Psy­cho­lo­gie und Wis­sens­theo­rie und dank ihrer Mono­pol­stel­lung im Bildungs‑, Öffent­lich­keits- und Infor­ma­ti­ons­be­trieb eine »Pries­ter­herr­schaft « errich­tet hät­ten, um der Gesell­schaft einen theo­lo­gi­schen Weg vom »See­len­heil zum Sozi­al­heil« zu wei­sen. Die­se neu­en Pries­ter muß­ten sich von Strauß bloß­ge­stellt und in Fra­ge gestellt füh­len: »Es zie­hen aber Kon­flik­te her­auf, die sich nicht mehr öko­no­misch befrie­den las­sen; bei denen es eine nach­tei­li­ge Rol­le spie­len könn­te, daß der rei­che West­eu­ro­pä­er sozu­sa­gen auch sitt­lich über sei­ne Ver­hält­nis­se gelebt hat, da hier das Mach­ba­re am wenigs­ten an eine Gren­ze stieß.«

Strauß hat kei­nen der Befun­de zurück­ge­nom­men, son­dern sie ver­schärft. Zum 11. Sep­tem­ber 2001 schrieb er: »Die Blind­heit der Glau­bens­krie­ger und die meta­phy­si­sche Blind­heit der west­li­chen Intel­li­genz schei­nen ein­an­der auf ver­häng­nis­vol­le Wei­se zu bedin­gen.« 2006 reflek­tier­te er im Auf­satz »Der Kon­flikt« offen über eine Zukunft, in der die christ­li­chen Auto­chtho­nen bzw. ihre säku­la­ri­sier­ten Nach­fah­ren in Euro­pa nur noch eine Min­der­heit bil­de­ten, was von den Intel­lek­tu­el­len in ihrer »auf­rich­ti­gen Ver­wir­rung« gar nicht begrif­fen wür­de. Die »Par­al­lel­ge­sell­schaf­ten« kon­sti­tu­ier­ten in Wahr­heit eine »Vor­be­rei­tungs­ge­sell­schaft«. Als Auf­for­de­rung an die Euro­pä­er näm­lich, sich auf vor­staat­li­che und ‑gesell­schaft­li­che Gemein­schaft­lich­keit und auf euro­päi­sche Tugen­den: Dif­fe­ren­zie­rungs- und Refle­xi­ons­ver­mö­gen, an Kunst geschul­tem Schön­heits­ver­lan­gen, Sen­si­bi­li­tät, zu besin­nen und ihnen in der »geist­lo­sen« Gegen­wart des Wes­tens neue Gel­tung zu ver­schaf­fen. Er sieht uns in eine Ent­schei­dungs­si­tua­ti­on gestellt. Die Zeit der »neu­en Unüber­sicht­lich­keit « (Jür­gen Haber­mas) sei jeden­falls zu Ende: »Wir haben sie hin­ter uns. Es war eine schwa­che Zeit.« Wie kein ande­rer hat Botho Strauß die Innen­sei­te die­ser Schwä­che beschrieben.

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