Der konservative Katechismus

pdf der Druckfassung aus Sezession 29 / April 2009

von Karlheinz Weißmann

Vorbemerkung: Der große amerikanische Konservative Russell Kirk hat einmal geäußert, daß Konservative kein Regelwerk brauchten – es genügten die Zehn Gebote. Das war vor beinahe sechzig Jahren, und Kirk hat seine eigene Maßgabe wohlweislich nicht befolgt, weil er wußte, daß sich das Konservative in der Gegenwart nicht mehr so von selbst verstehen kann wie in der Vergangenheit, nicht einmal für die Konservativen selbst. Zeit also für einen konservativen Katechismus in zwölf Sätzen.

1.
Erschrick nicht, wenn Du fest­stellst, daß Du kon­ser­va­tiv bist. Es besteht kein Grund zur Sor­ge. Man­che waren es vor Dir und man­che wer­den es nach Dir sein, gro­ße Män­ner und gro­ße Frau­en gehör­ten dem kon­ser­va­ti­ven Lager an: von Cato dem Älte­ren bis Bis­marck, von Thuky­di­des bis Leo­pold von Ran­ke, von Anti­go­ne bis Mar­ga­ret That­cher, von Pla­ton bis Arnold Geh­len, vom Hei­li­gen Bene­dikt bis Kon­rad Lorenz, vom Ver­fas­ser des Buches Pre­di­ger bis Goe­the, von Leo­ni­das bis Stauffenberg.
Was heißt das? Es wird oft ver­ges­sen, daß die kon­ser­va­ti­ve eine gro­ße Tra­di­ti­on ist und die Kon­ser­va­ti­ven nicht die »Par­tei der Dumm­heit« (John Stuart Mill) bil­den, son­dern ihre geis­ti­ge Tra­di­ti­on in vie­ler Hin­sicht iden­tisch ist mit der geis­ti­gen Tra­di­ti­on Euro­pas. Es man­gelt ihnen nicht an Intel­li­genz, eher wird man von einem Bega­bungs­über­schuß spre­chen müs­sen, weni­ger in den sys­te­ma­ti­schen Fächern, eher in den lite­ra­ri­schen, über­all da, wo es um die Phä­no­me­ne selbst geht, nicht um deren Abs­trak­ti­on. Deut­li­cher tritt das kon­ser­va­ti­ve Genie nur in der Pra­xis her­vor, in Staats­füh­rung, Mili­tär und Ver­wal­tung. Faßt man die Kon­ser­va­ti­ven so als Par­tei des Geis­tes und als Par­tei der Ord­nung auf, kommt noch ein drit­tes hin­zu. Die Kon­ser­va­ti­ven sind die Par­tei des Wider­stan­des: des­halb Cato, Thuky­di­des, Anti­go­ne, Leo­ni­das und Stauffenberg.

2.
Prü­fe kri­tisch, ob es sich nicht nur um typ­be­ding­tes Phleg­ma oder alters­be­ding­te Resi­gna­ti­on han­delt. Es gibt auch eine ver­brei­te­te Nei­gung, Faul­heit und Kon­ser­va­tis­mus zu ver­wech­seln, oder feh­len­de Anstren­gungs­be­reit­schaft welt­an­schau­lich aufzuhübschen.
Was heißt das? Jede Annah­me, daß es einen bestimm­ten anthro­po­lo­gi­schen Typus des Kon­ser­va­ti­ven gibt, ent­we­der (als Aus­nah­me) unter Jung-Ver­spie­ßer­ten oder (als Regel) unter gereif­ten Per­sön­lich­kei­ten, geht an der Sache vor­bei. Auch der oft zitier­te Satz »Wer mit zwan­zig kein Sozia­list ist, hat kein Herz, wer es mit drei­ßig noch ist, hat kei­nen Ver­stand«, führt in die Irre. Es ist zwar rich­tig, daß das Ruhe­be­dürf­nis mit dem Alter zunimmt, auch der Rea­li­täts­sinn, aber Garan­tien gibt es dafür nicht. Die Acht­und­sech­zi­ger sind heu­te zwar betagt, aber nicht wei­se, und Kon­ser­va­tis­mus ist selbst­ver­ständ­lich etwas ande­res als Rou­ti­ne oder der Ver­fall von Lebens­kraft. Inso­fern es dem Kon­ser­va­ti­ven dar­um geht, etwas Leben­di­ges – sei­ne Kul­tur, sei­ne Nati­on, sei­ne Reli­gi­on, sei­ne Fami­lie – zu erhal­ten, kann er sich das Nach­las­sen nicht erlauben.

3.
Glau­be nicht, daß man Kon­ser­va­ti­ve am äuße­ren Habi­tus erkennt. Anzug und Kos­tüm, das Abon­ne­ment der FAZ und der Fest­spiel­be­such in Bay­reuth spre­chen dafür, daß man es mit Kon­ser­va­ti­ven zu tun hat. Aber die schi­cke Lin­ke weiß sich auch zu tra­gen, und der bür­ger­li­che Oppor­tu­nis­mus kennt jedes Dekor.
Was heißt das? Kon­ser­va­ti­ve Camou­fla­ge ist kein ganz neu­es Phä­no­men; Nietz­sche mein­te schon, es gebe einen Kon­ser­va­tis­mus, den kenn­zeich­ne, daß immer etwas »dazu­ge­lo­gen« wer­de. Das gilt auch für die Gegen­wart mit der Infla­ti­on von Benimm- und Tanz­kur­sen für jun­ge Leu­te, deren Kar­rie­re­fi­xie­rung und Leis­tungs­wil­le vom Kin­der­gar­ten an trai­niert wird, mit der all­fäl­li­gen Kon­for­mi­tät, dem »Elite«-Geschwätz und der gan­zen »neu­en Bür­ger­lich­keit«. Deren Ideo­lo­gen, von Wolf­ram Wei­mer bis Paul Nol­te, las­sen sich fall­wei­se »kon­ser­va­tiv« nen­nen. Aber das ist doch nur Tar­nung der Arri­vier­ten, derer, die intel­li­gent genug sind, um zu wis­sen, wie weit der Sub­stanz­ver­lust geht, und die in der siche­ren Annah­me han­deln, daß man sowie­so nichts mehr machen kann und des­halb ein gedie­ge­nes Dasein für sich und die Ihren geret­tet sehen möch­ten. Die authen­tisch Kon­ser­va­ti­ven sind dage­gen ein bun­tes Völk­chen: katho­li­sche Inte­gris­ten und Jung­he­ge­lia­ner, Dan­dys und Neo-Folk-Jün­ger, Com­pu­ter­fach­leu­te in Jeans und eine Müs­li­frak­ti­on, Eura­si­er und Atlan­ti­ker und Nationale.

4.
Kul­ti­vie­re Dei­ne Lei­den­schaft für die Viel­falt! Viel­falt ist das Gegen­teil von Ein­falt. Schüt­ze das Kon­kre­te, das immer ein Beson­de­res ist, gegen Sim­pli­fi­zie­rung und Gleich­ma­che­rei, die Unfä­hig­keit, im Man­nig­fal­ti­gen das Schö­ne zu erken­nen. Vive la dif­fé­rence!
Was heißt das? Kon­rad Lorenz hat ein­mal gesagt, daß heu­te dem Gleich­heits­wahn ent­ge­gen­zu­tre­ten so gefähr­lich sei, wie im Mit­tel­al­ter zu bestrei­ten, daß die Erde fest ste­he und sich im Mit­tel­punkt des Uni­ver­sums befin­de. Der Ega­li­ta­ris­mus ist der zähes­te Teil unter den kon­ven­tio­nel­len Lügen, die alle wie­der­ho­len und die nie­mand glaubt. Des­halb muß der Kon­ser­va­ti­ve die ele­men­ta­ren wie die kul­tu­rel­len Unter­schie­de ver­tei­di­gen: zwi­schen Mann und Frau, zwi­schen Deut­schen und Fran­zo­sen, zwi­schen Chris­ten und Juden, zwi­schen Gott und Mensch, zwi­schen Kol­be und Hrdli­cka, schön und häß­lich, gut und böse, dumm und klug, rechts und links. Das Kon­kre­te ist das Wirkliche.

5.
Blei­be skep­tisch gegen­über »Pen­del­ge­set­zen«! Es schlägt nicht ein­fach eine Pha­se der Geschich­te in eine ande­re um, auf die Domi­nanz der Lin­ken folgt nicht zwangs­läu­fig die der Rech­ten, auf Cha­os nicht Ordnung.
Was heißt das? Es mag sein, daß der Mensch Abwechs­lung braucht und in der Geschich­te man­ches von einem Extrem ins ande­re über­ging, aber eine Regel­mä­ßig­keit ist das nicht. Es gibt jeden­falls kei­nen Anlaß, sich zurück­zu­leh­nen und auf den Lauf der Din­ge zu set­zen. Wil­le und Ent­schlos­sen­heit ver­mö­gen nicht alles, aber sie ver­mö­gen viel, und ohne sie gibt es jeden­falls kei­nen grund­sätz­li­chen Wan­del der Mise­re. Das ist nicht als Plä­doy­er für Vol­un­t­a­ris­mus miß­zu­ver­ste­hen oder dafür, sich besin­nungs­los an jeder Wand den Kopf blu­tig zu sto­ßen. Dem Ein­satz geht immer der ent­schei­den­de ana­ly­ti­sche Schritt vor­aus: »Ers­tes Gebot: erken­ne die Lage!« (Carl Schmitt).

6.
Zei­ge Mut zur Reak­ti­on! Behar­re auf dem, was die ande­ren längst »über­wun­den« haben, ver­tei­di­ge Grund­sät­ze von ges­tern auch gegen den mehr­heit­lich akzep­tier­ten Unsinn von heute.
Die Stär­ke des Kon­ser­va­ti­ven ist sein Rea­li­täts­sinn, die Ableh­nung von ideo­lo­gi­schen Wunsch­bil­dern und Träu­me­rei­en, für den Kon­ser­va­ti­ven ist die Wirk­lich­keit der Maß­stab, und wenn sich die Gegen­wart so weit von der Wirk­lich­keit ent­fernt hat, muß man dar­auf reagie­ren. Also wen­de man sich dem »Essen­tia­lis­mus « zu, der nicht nur Kon­struk­ti­on und Erfin­dung sieht, son­dern die Sub­stanz der Din­ge; voll­zie­he den Schluß vom Sein auf das Sol­len, weil das Natür­li­che und die Nor­ma­li­tät tat­säch­lich Hin­wei­se für das Rich­ti­ge geben und plä­die­re für den gesun­den Men­schen­ver­stand, der nicht nur die eige­ne Erfah­rung auf sei­ner Sei­te hat, son­dern auch die Tra­di­ti­on. Kon­ser­va­tiv ist seit der Auf­klä­rung die Gegen-Auf­klä­rung, die den Men­schen eben nicht als auto­no­mes Sub­jekt ver­steht, das mit Hil­fe der Ver­nunft die Welt ver­steht, in der Ana­ly­se zer­legt und neu zusam­men­setzt, das heißt »kon­stru­iert«.

7.
Halt Dich nicht damit auf, alles Alte zu bewah­ren! Der Kon­ser­va­ti­ve ist kein Tröd­ler und kein Nost­al­gi­ker. Er will kei­ne Kon­ser­ven, in denen nur noch ein Schein des Lebens vor­ge­wie­sen wer­den kann.
Was heißt das? Selbst­ver­ständ­lich gibt es die Lie­be zu den alten Din­gen, zu Rui­nen und Anti­qui­tä­ten und unter Kon­ser­va­ti­ven eine beson­de­re Fähig­keit zur Wahr­neh­mung des Zau­bers, der den Relik­ten anhaf­tet. Das ist aber nicht die Sache selbst. Man muß auch Schnit­te machen, sich von Über­kom­me­nem tren­nen, und soll nicht glau­ben, daß in jeder alten Hül­le noch der alte Geist steckt. Es geht auch nicht um das Alte, son­dern um das Erbe, nicht ums Archi­vie­ren, son­dern ums Tra­die­ren. Es geht um den leben­di­gen Zusam­men­hang. Wenn der zer­stört ist, bleibt Pie­tät viel­leicht oder Trau­er, aber nicht das, was die Anstren­gungs­be­reit­schaft des Kon­ser­va­ti­ven wert ist.

8.
Erwä­ge gründ­lich, wofür Du Dich ein­set­zen willst! Miß­traue den attrak­ti­ven Ange­bo­ten, die man Dir mit schein­hei­li­ger Mie­ne macht, nimm zur Kennt­nis, daß die Insti­tu­tio­nen, für die wir immer ein­ge­tre­ten sind – Staat, Nati­on, Kir­che – schwe­re Beschä­di­gun­gen erlit­ten haben.
Was heißt das? Der Kon­ser­va­ti­ve muß heu­te sei­ne Kräf­te scho­nen, weil er sich auf den wirk­li­chen Fall, den Ernst­fall, vor­be­rei­tet. Des­halb sei­ne désin­vol­tu­re, sein Miß­trau­en gegen­über der Sta­bi­li­tät der Ver­hält­nis­se, sei­ne Skep­sis ange­sichts von öffent­li­chen Ein­rich­tun­gen, die neu­er­dings mit der Not­wen­dig­keit des Diens­tes, der Ein­satz­be­reit­schaft und des Gemein­sinns wer­ben, denen aber Ent­schei­den­des abhan­den gekom­men ist: die Fähig­keit, jene »Treue­pflicht zu außer­ra­tio­na­len Wer­ten« (Arnold Geh­len) zu stif­ten, die über­haupt erst den Bestand einer Insti­tu­ti­on ver­bürgt. Hier zeigt sich die tie­fe Wir­kung der Deka­denz, der Beschwich­ti­gung, des Gere­des, der Weichheit.

9.
Lies!
Was heißt das? Es genügt schon lan­ge nicht mehr, sich auf das Erbe der Väter zu beru­fen und die Lek­tü­re auf die Klas­si­ker zu beschrän­ken. Um ein Wort Joseph de Mai­s­tres abzu­wan­deln: Ges­tern war Kon­ser­va­tiv-Sein eine Hal­tung, heu­te ist es eine Leh­re. Der Kon­ser­va­ti­ve bedarf der Argu­men­te und er fin­det sie oft an uner­war­te­ter Stel­le. Sicher haben uns Peter Slo­ter­di­jk, Hans Peter Duerr und Wolf­gang Sof­sky mehr zu bie­ten als Hans-Joa­chim von Mer­katz, Wil­liam S. Schlamm oder das Spruch­gut eines Franz Josef Strauß. Der Kon­ser­va­ti­ve muß Infor­ma­ti­ons­vor­sprung gewinnen.

10.
Mach Dich unbe­liebt! Ver­blüf­fe Dei­ne Fein­de, ver­stö­re die Spießer!
Was heißt das? Der Kon­ser­va­ti­ve hat sehr viel über für gute Kin­der­stu­be und gute Manie­ren, aber das darf ihn doch nicht an der not­wen­di­gen Grob­heit hin­dern; nur sei die Grob­heit kal­ku­liert, ein Mit­tel, kei­ne Lei­den­schaft, die Dich beherrscht. Also fall Dei­nem Geg­ner ins Wort, wenn Du Dich sonst nicht bemerk­bar machen kannst, stö­re die Selbst­ge­fäl­li­gen mit Zwi­schen­ru­fen und besorg Dir im Zwei­fel die Uten­si­li­en für ein Pro­test­pla­kat. Wir leben in lau­ten Zei­ten, wer nur lei­se ist, ver­zich­tet von vorn­her­ein auf Ein­fluß­nah­me. Es besteht kein Bedarf an mehr Behä­big­keit. Was wir brau­chen, sind rech­te Spon­tis und eine kon­ser­va­ti­ve Spaß­gue­ril­la, also: Die Phan­ta­sie an die Macht!

11.
Sei poli­tisch in unpo­li­ti­scher Zeit!
Was heißt das? Hüte Dich vor jeder Ablen­kung ins »Libe­ral­kon­ser­va­ti­ve«, »Frei­heit­lich-Kon­ser­va­ti­ve«, »Kul­tur­kon­ser­va­ti­ve«, »Wert­kon­ser­va­ti­ve«. Das sind Fal­len, mit denen man Dich von der eigent­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung fern­hält, denn die ist poli­ti­scher Natur und for­dert kla­re Ent­schei­dun­gen. Wenn Du glaubst, daß das hilft, schieb Dei­ne Posi­ti­on eher vor, als daß Du sie zurück­nimmst, sei klug, aber hüte Dich vor Lei­se­tre­te­rei: Was spricht eigent­lich dage­gen, sich »rechts« zu nen­nen, da wo das Rech­te, das Rich­ti­ge gedacht, gewollt, getan wird? Die Lin­ke genießt gegen­über der Rech­ten kei­nen mora­li­schen Vor­zug, die Mit­te kommt gar nicht in Betracht, das jus­te milieu ist immer unselb­stän­dig, zu fei­ge, eine Rich­tung ein­zu­schla­gen, es folgt dem, was links oder rechts vor­ge­ge­ben wird.

12.
Zieh Konsequenzen!
Was heißt das? Bring Dei­ne Welt­an­schau­ung mit Dei­nem Lebens­stil in Über­ein­stim­mung, soweit das in des Men­schen Macht liegt. Das ist kein Auf­ruf, anti­qua­ri­sche Nei­gun­gen zu pfle­gen oder sich ein Reser­vat zu suchen. Aber: Kei­ne Zuge­ständ­nis­se an den Ent­wurf »rechts den­ken, links leben«. Die Kon­ser­va­ti­ven sind eine Min­der­heit, des­halb wird ihre Anzie­hungs­kraft ganz wesent­lich davon abhän­gen, ob man ihnen abnimmt, was sie reden. Übri­gens: Geschich­te wird immer von ent­schlos­se­nen Min­der­hei­ten gemacht!

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