Zivilbevölkerung und Kriegsende

pdf der Druckfassung aus Sezession 9 / April 2005

sez_nr_9von Heinz Nawratil

Die letzten Tage des Dritten Reiches erlebten die Menschen als Normalität und Anomalie zugleich. Einerseits funktionierten Justiz und Verwaltung noch erstaunlich gut. Die Versorgung mit Lebensmitteln, Strom und Wasser und die Unterbringung der Ausgebombten waren einigermaßen gesichert. Dabei ist zu bedenken, daß etwa in Köln zum Schluß nur noch 19,6 Prozent aller Häuser bewohnbar waren. Auch die Gerichte arbeiteten fast wie in Friedenszeiten, nur saß jetzt das Fallbeil sehr locker; wer am „Endsieg“ zweifelte, wer Feindsender hörte oder in ausgebombten Häusern plünderte – oft nur Kleinigkeiten mitnahm –, mußte mit der Todesstrafe rechnen.

Die wah­re Gei­ßel Got­tes aber waren in jenen Tagen die Flä­chen­bom­bar­de­ments der Ang­lo-Ame­ri­ka­ner. Sie ziel­ten nicht nur auf Indus­trie­stand­or­te, son­dern auch auf rei­ne Wohn­städ­te oder Städ­te mit hoher Flücht­lings­kon­zen­tra­ti­on wie Würz­burg, Dres­den oder Swi­ne­mün­de. Das Gan­ze nann­te man mora­le bom­bing – frei über­setzt etwa: „Bom­bar­die­rung, um die Moral der Bevöl­ke­rung zu bre­chen“. Abge­se­hen davon, daß geziel­te Kriegs­hand­lun­gen gegen die Zivil­be­völ­ke­rung schon damals gegen die Gen­fer Kon­ven­ti­on ver­sto­ßen haben, blieb die erhoff­te psy­cho­lo­gi­sche Wir­kung aus. Der Durch­hal­te­wil­le wur­de im all­ge­mei­nen nicht geschwächt, aber mehr als 600.000 Men­schen star­ben, das ent­spricht etwa den Kriegs­ver­lus­ten der Ver­ei­nig­ten Staa­ten und des Ver­ei­nig­ten König­reichs zusammengenommen.
1945 besa­ßen die Alli­ier­ten die tota­le Luft­herr­schaft, und ihre Tief­flie­ger konn­ten unge­stört Jagd auf belie­bi­ge Fuß­gän­ger und Rad­fah­rer machen. Auch Frau­en, spie­len­de Kin­der und Bau­ern bei der Feld­ar­beit wur­den Opfer die­ser völ­ker­rechts­wid­ri­gen Pra­xis. Als man 1945 in Lon­don ein Sta­tut für die Nürn­ber­ger Kriegs­ver­bre­cher-Pro­zes­se vor­be­rei­te­te, plan­te man ursprüng­lich auch, deut­sche Flie­ger vor Gericht zu stel­len. Man merk­te aber bald, daß die „christ­li­chen Sol­da­ten“ (so ein eng­li­sches Kir­chen­lied) ungleich mehr Zivi­lis­ten aus der Luft getö­tet hat­ten als die deut­sche Luft­waf­fe. Schnell ließ man den Plan wie­der fal­len, und der ame­ri­ka­ni­sche Chef­an­klä­ger in Nürn­berg, Robert H. Jack­son, notier­te Jah­re spä­ter: „Die­ses The­ma wäre einer Auf­for­de­rung zur Erhe­bung von Gegen­be­schul­di­gun­gen gleich­ge­kom­men, die in dem Pro­zeß nicht nütz­lich gewe­sen wären“.
Beson­ders gefähr­lich waren die letz­ten Kriegs­ta­ge. Der Mün­che­ner Kar­di­nal Faul­ha­ber berich­te­te am 17. Mai 1945 dem Papst, die SS habe „heim­keh­ren­de Sol­da­ten der Wehr­macht … in grö­ße­rer Zahl an den Bäu­men auf­ge­hängt, auch eini­ge Pries­ter, die zu früh die wei­ße Flag­ge gehißt hat­ten, und eine Anzahl von katho­li­schen Lai­en – in Alt­öt­ting mehr als hun­dert – erschossen“.
Daß nach der Kapi­tu­la­ti­on zunächst weder Post, Tele­fon, Bahn- oder Auto­ver­kehr funk­tio­nier­ten, wur­de mit stoi­scher Ruhe hin­ge­nom­men. Gro­ße Angst aber ver­brei­te­ten die Häft­lin­ge aus Gefäng­nis­sen und Lagern, die jetzt zum Teil plün­dernd und rau­bend umher­zo­gen. Dazu wie­der Kar­di­nal Faul­ha­ber (in sei­nem Hir­ten­wort vom 10. Mai 1945): „Die ers­te Auf­ga­be: Daß die öffent­li­che Ord­nung auf­recht­erhal­ten blei­be und nicht durch wil­de Plün­de­run­gen gestört wer­de. Die Besat­zungs­be­hör­den haben ihr Augen­merk dar­auf gerich­tet, den Plün­de­run­gen ent­ge­gen­zu­tre­ten und die Bedro­her der öffent­li­chen Ruhe, Fremd­ar­bei­ter, frei­ge­wor­de­ne Häft­lin­ge, in denen die Geis­ter der Rach­sucht sich aus­to­ben, aber auch Ein­hei­mi­sche, in die Schran­ken zu weisen“.

In der bri­ti­schen Besat­zungs­zo­ne erreg­ten die bald ein­set­zen­den Demon­ta­gen den Unmut der Bevöl­ke­rung, doch scheint es zu kei­nen nen­nens­wer­ten Über­grif­fen der Besat­zungs­trup­pen gekom­men zu sein. Deut­lich mehr Über­grif­fe regis­trier­te man in der US-Besat­zungs­zo­ne. Vor allem der hier prak­ti­zier­te „Auto­ma­ti­sche Arrest“ für Funk­ti­ons­trä­ger im Militär‑, Par­tei- und Staats­ap­pa­rat und gewis­se ande­re Ver­däch­ti­ge führ­te zu schlim­men Zustän­den in den über­füll­ten Lagern. Der par­tei­lo­se Schrift­stel­ler Ernst von Salo­mon bei­spiels­wei­se wur­de zusam­men mit sei­ner jüdi­schen Frau ver­haf­tet und so gründ­lich „ver­hört“, daß er eini­ge Zäh­ne ver­lor. Über sei­ne Lager­erfah­run­gen berich­tet Salo­mon: „Geprü­gelt wur­de so gut wie aus­nahms­los jeder, der in das Lager ein­ge­lie­fert wur­de; die Ame­ri­ka­ner nann­ten das over­work (über­ar­bei­ten). Geprü­gelt wur­den selbst die­je­ni­gen Inter­nier­ten, die aus einem ande­ren Lager kamen, in wel­chem sie bereits ihren Tri­but emp­fan­gen hat­ten, und auch die Gene­ra­le, die aus dem Kriegs­ge­fan­ge­nen­la­ger kamen“.
Auch die Behand­lung der Gefäng­nis­in­sas­sen war nicht immer rechts­staat­lich. Im Mal­me­dy-Pro­zeß (es ging dort um den Tod ame­ri­ka­ni­scher Kriegs­ge­fan­ge­ner in deut­schem Gewahr­sam) etwa muß­te sich auf Ver­an­las­sung des Ver­tei­di­gers eine Kom­mis­si­on aus zwei Rich­tern nach­träg­lich mit den ange­wand­ten Ver­hör­me­tho­den beschäf­ti­gen. Das Ergeb­nis: Fol­ter drit­ten Gra­des war ange­wen­det wor­den, und „sämt­li­che Deut­sche bis auf 2 in den 139 von uns unter­such­ten Fäl­len hat­ten durch Fuß­trit­te in die Hoden unheil­ba­re Schä­den erlit­ten. Dies war die übli­che Unter­su­chungs­me­tho­de unse­rer ame­ri­ka­ni­schen Untersuchungsbeamten“.
Fast ver­ges­sen ist heu­te eine Art Kol­lek­tiv­stra­fe der Alli­ier­ten, näm­lich die geziel­te Hun­ger­po­li­tik der Jah­re 1945 und 1946. Zwei Zita­te dazu zur Erläu­te­rung: Als am 14. Dezem­ber 1945 der ame­ri­ka­ni­sche Sena­tor Haw­kes ange­sichts des stren­gen Win­ters und des gro­ßen Hun­gers in Deutsch­land drin­gend bat, doch end­lich pri­va­te Hilfs­lie­fe­run­gen und Spen­den in die ame­ri­ka­ni­sche Besat­zungs­zo­ne her­ein­zu­las­sen, ant­wor­te­te Prä­si­dent Tru­man am 21. Dezem­ber gar nicht weih­nacht­lich: „Wenn wir auch nicht wün­schen, unge­bühr­lich grau­sam gegen Deutsch­land zu ver­fah­ren, kann ich doch nicht viel Sym­pa­thie für die Leu­te auf­brin­gen, die den Tod so vie­ler Men­schen ver­ur­sacht haben … Bevor nicht das Unglück jener, die von Deutsch­land bedrückt und gequält wur­den, ver­ges­sen ist, scheint es nicht rich­tig, unse­re Bemü­hun­gen den Deut­schen zugu­te kom­men zu las­sen. Ich gebe zu, daß es natür­lich vie­le Unschul­di­ge in Deutsch­land gibt, die mit dem Nazi­ter­ror wenig zu tun hat­ten. Aber die admi­nis­tra­ti­ve Last, die­se Leu­te her­aus­zu­fin­den, um sie anders als die übri­gen zu behan­deln, ist fast untragbar“.
Noch 1946 mein­te Feld­mar­schall Mont­go­me­ry in einer Rede: „Die deut­schen Lebens­mit­tel­be­schrän­kun­gen wer­den blei­ben. Wir wer­den sie bei 1000 Kalo­rien hal­ten. Sie gaben den Insas­sen von Bel­sen nur 800“. In der fran­zö­si­schen Besat­zungs­zo­ne lag der Ver­pfle­gungs­wert sei­ner­zeit zum Teil sogar unter den KZ-Ratio­nen von Bergen-Belsen.
Wäh­rend zumin­dest Fach­his­to­ri­ker wis­sen, daß infol­ge der fort­ge­setz­ten alli­ier­ten Lebens­mit­tel­blo­cka­de gegen Deutsch­land und Öster­reich nach dem Ers­ten Welt­krieg rund eine Mil­li­on Men­schen star­ben, gelang es erst dem kana­di­schen Jour­na­lis­ten James Bac­que, die Öffent­lich­keit auf die wesent­lich höhe­re Zahl direk­ter und indi­rek­ter Hun­ger­op­fer (zum Bei­spiel erhöh­te Säug­lings­sterb­lich­keit, hun­ger­be­ding­te Krank­hei­ten und der­glei­chen) nach dem Zwei­ten Welt­krieg auf­merk­sam zu machen. Bac­que kommt auf schier unglaub­li­che 5,7 Mil­lio­nen in den vier Besat­zungs­zo­nen. Selbst wenn die­se Zahl zu hoch gegrif­fen sein soll­te, so erscheint doch eine Min­dest­an­nah­me von 2 Mil­lio­nen durch­aus realistisch.

Bevor man sich mit der fran­zö­si­schen Besat­zungs­po­li­tik befaßt, soll­te man einen Blick auf die fran­zö­si­sche Armee im Früh­jahr 1945 wer­fen. Im Kern war sie eine Kolo­ni­al­ar­mee aus dem nicht besetz­ten Fran­zö­sisch-Nord­afri­ka, bestehend aus Marok­ka­nern, Alge­ri­ern, Tune­si­ern und Fran­zo­sen, ergänzt durch Unter­grund­kämp­fer aus Frank­reich, die zu einem gro­ßen Teil kom­mu­nis­tisch geprägt waren.
Ent­spre­chend war auch das Ver­hal­ten der Trup­pe; Plün­de­rung, Ver­ge­wal­ti­gung und Brand­stif­tung waren an der Tages­ord­nung. Die städ­ti­sche Ver­wal­tung von Pforz­heim berich­tet: „Die Bevöl­ke­rung … hat­te unter den Über­grif­fen der fran­zö­si­schen Trup­pen – ins­be­son­de­re der Marok­ka­ner, die Tune­si­er ver­hiel­ten sich durch­weg anstän­dig – aufs Schwers­te zu lei­den.“ Aufs schwers­te zu lei­den hat­ten auch die Bür­ger von Stutt­gart, Reut­lin­gen, Baden-Baden, Bruch­sal und ande­ren Städten.
Die Hoch­was­ser­mar­ke der Bar­ba­rei aber war Freu­den­stadt. Hier erreich­ten die Ver­bre­chen das Niveau der Roten Armee beim Ein­marsch im deut­schen Osten. Obwohl die Fran­zo­sen wuß­ten, daß sich im Umkreis von 10 km kei­ne deut­schen mili­tä­ri­schen Ein­hei­ten befan­den und die Stadt 1500 Ver­wun­de­te beher­berg­te, beschos­sen sie den Ort mas­siv, bis schließ­lich etwa 650 Häu­ser brann­ten. Der fran­zö­si­sche Kom­man­deur ver­bot nicht nur das Löschen, son­dern gab sei­nen Marok­ka­nern auch völ­lig freie Hand. Fast alle Bür­ge­rin­nen Freu­den­stadts zwi­schen 15 und 60 wur­den ver­ge­wal­tigt und Män­ner, die sie ver­tei­di­gen woll­ten, getö­tet. Erst nach meh­re­ren Tagen erreich­ten deut­sche Orts- und fran­zö­si­sche Mili­tär­geist­li­che, daß das wüs­te Trei­ben offi­zi­ell ver­bo­ten wur­de. Die Moti­ve die­ses Kriegs­ver­bre­chens sind bis heu­te nicht voll­stän­dig auf­ge­klärt worden.
Eine Kam­pa­gne zur Säu­be­rung der Ver­wal­tun­gen und Berufs­grup­pen eröff­ne­ten die Fran­zo­sen im Unter­schied zu den Ame­ri­ka­nern erst spät, am 31. Okto­ber 1945. Aller­dings gab es vor­her schon eine eher unge­ord­ne­te Jagd auf deut­sche Sol­da­ten in Zivil und „Nazis“, Denun­zia­ti­on und auch Kor­rup­ti­on blüh­ten. In Gefäng­nis­sen und Lagern waren die Insas­sen Fol­te­run­gen und teil­wei­se sadis­ti­schen Quä­le­rei­en aus­ge­setzt. Von den etwa 200.000 Inter­nier­ten kamen vie­le nicht wieder.
Über die Lage in der sowje­ti­schen Besat­zungs­zo­ne – der spä­te­ren DDR – wird berich­tet: Am Anfang stand vie­ler­orts das Cha­os; denn vie­le Beam­te hat­ten sich beim Her­an­na­hen der Front nach Wes­ten abge­setzt. Dann kam die Rote Armee. Sehr schnell spra­chen sich ihre Grund­sät­ze her­um: Der ers­ten Wel­le gehö­ren die Uhren, der zwei­ten die Wei­ber und der drit­ten die Klamotten.
Dane­ben herrsch­te per­ma­nen­te Faschis­ten­jagd. Erschos­sen wur­den mit Vor­lie­be Uni­form­trä­ger wie Post­bo­ten, Feu­er­wehr­leu­te und Eisen­bah­ner, dane­ben „Kapi­ta­lis­ten“ wie Ärz­te und Rechts­an­wäl­te, aber auch Arbei­ter und Ange­stell­te. Der Gör­lit­zer Pfar­rer Franz Scholz berich­tet: „Rus­si­sche Sol­da­ten sehen ja eine deut­sche Arbei­ter­woh­nung mit Was­ser­lei­tung, elek­tri­schem Strom, Gar­di­nen, Radio und Por­zel­lan­ge­schirr als Kapi­ta­lis­ten­woh­nung an“.

Eine Rei­he von Städ­ten wie etwa Neu­bran­den­burg oder Dem­min wur­de ganz offi­zi­ell zur Brand­schat­zung, Plün­de­rung und Ver­ge­wal­ti­gung frei­ge­ge­ben. Hier galt, was der US-Gene­ral Frank A. Kea­ting über die Sowjet­sol­da­ten in Ber­lin ver­merkt hat­te: „In vie­len Fäl­len war ihr hem­mungs­lo­ses Trei­ben dem der bar­ba­ri­schen Hor­den von Dschin­gis Khan zu ver­glei­chen.“ Der äuße­re Anlaß für die Ver­nich­tung einer Stadt war oft banal. Ein­mal hat­te ein Apo­the­ker-Ehe­paar mit ver­gif­te­tem Wein Selbst­mord began­gen; plün­dern­de Sol­da­ten hat­ten von dem Rest getrun­ken und gleich hieß es: Sabo­ta­ge! Ein ande­res Mal hat­te ein indok­tri­nier­ter Natio­nal­so­zia­list aus sei­nem Haus auf Sol­da­ten geschossen.
Die Fol­ge der dau­ern­den Mas­sen­ver­ge­wal­ti­gun­gen waren Mas­sen­selbst­mor­de der Opfer, die oft auch ihre Kin­der mit in den Tod nah­men. Allein in dem vor­pom­mer­schen Städt­chen Dem­min mit sei­nen 18 900 Ein­woh­nern – hin­zu kamen aller­dings noch zahl­rei­che Flücht­lin­ge – dürf­te es 1200 bis 2000 Selbst­mor­de gege­ben haben. Die­se Mas­sen­selbst­mor­de sind nicht zu ver­wech­seln mit den Ein­zel­selbst­mor­den fana­ti­scher Hit­ler-Anhän­ger, die im gan­zen Reich vorkamen.
Den Kampf­trup­pen auf dem Fuß folg­ten spe­zi­el­le Beu­te­ba­tail­lo­ne, die den Auf­trag hat­ten, mehr oder min­der alles abzu­trans­por­tie­ren, was wirt­schaft­lich irgend­wie ver­wert­bar war. Auch „pri­vat“ wur­de exzes­siv geplün­dert. Bezeich­nend sind eini­ge Mos­kau­er Gerichts­ver­fah­ren gegen Offi­zie­re. Aus dem Pro­zeß gegen Mar­schall Schu­kow, den hoch­de­ko­rier­ten „Hel­den der Sowjet­uni­on“, ist bekannt, daß die ermit­teln­den Behör­den in sei­ner Stadt­woh­nung und sei­ner Dat­scha gro­ße Men­gen an deut­schem Gold­schmuck ent­deck­ten, fer­ner 4000 Meter Sei­de, Bro­kat und Samt, Hun­der­te von Pel­zen, 44 Tep­pi­che und gro­ße Gobe­lins aus Schlös­sern, 57 klas­si­sche Gemäl­de, Kis­ten vol­ler Kris­tall, Por­zel­lan und Tafelsilber.
Die neu­en Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger in Mit­tel­deutsch­land, die im rus­si­schen Amts­jar­gon Spez­Lag (Spe­zi­al­la­ger) genannt wur­den, dien­ten offi­zi­ell der Säu­be­rung von Nazis, prak­tisch aber der Siche­rung der Sowjet­dik­ta­tur. Ein Stan­dard­werk zum The­ma berich­tet: „Indes erschöpf­te sich im sowje­ti­schen Besat­zungs­ge­biet eben der Zweck der Inter­nie­rung nicht in einer so ver­stan­de­nen Ent­na­zi­fi­zie­rung. Weit dar­über hin­aus­ge­hend soll­te er sich auch auf die Iso­lie­rung tat­säch­li­cher oder ver­meint­li­cher ‚Klas­sen­fein­de‘ erstre­cken, um so die unter dem Vor­wand einer ‚anti­fa­schis­tisch­de­mo­kra­ti­schen Umwäl­zung‘ for­cier­te radi­ka­le Umge­stal­tung in Staat und Gesell­schaft wirk­sa­mer durch­set­zen und Wider­stand dage­gen bre­chen zu kön­nen. Alex­an­der Sol­sche­ni­zyn zitiert dazu aus dem Sprach­ge­brauch der Tsche­ka den zyni­schen Begriff der ‚sozia­len Pro­phy­la­xe‘“ (Karl Wil­helm Fricke).
Auch die Toten­lis­ten der neu­en Lager spre­chen eine ein­deu­ti­ge Spra­che. Auf ihr ste­hen neben höhe­ren NS-Funk­tio­nä­ren und klei­nen Beam­ten auch jüdi­sche KZ-Insas­sen aus der Zeit vor 1945, neben Ange­hö­ri­gen der Intel­li­genz­schicht auch Pro­mi­nen­te wie der Schau­spie­ler Hein­rich Geor­ge und Her­zog Joa­chim Ernst von Anhalt, akti­ve Wider­stands­kämp­fer gegen den Natio­nal­so­zia­lis­mus wie Jus­tus Del­brück, Ulrich Frei­herr von Seil, Dr. Lud­wig Münch, Horst Graf von Ein­sie­del, Juli­us Scherff; von 5000 inhaf­tier­ten Sozi­al­de­mo­kra­ten star­ben 400. Die Grä­ber wur­den ein­ge­eb­net und – wie schon in Katyn – mit Sträu­chern und Bäu­men bepflanzt.

In West- und Mit­tel­deutsch­land sind 1945 also zahl­rei­che Kriegs- und Nach­kriegs­ver­bre­chen zu regis­trie­ren. Was sich aber im deut­schen Osten jen­seits von Oder, Nei­ße und Böh­mer­wald abspiel­te, erfüllt den Tat­be­stand des Völ­ker­mords, was im Fol­gen­den noch zu begrün­den sein wird. In sei­nen Memoi­ren schreibt der US-ame­ri­ka­ni­sche Diplo­mat Geor­ge F. Kennan über den Zustand Ost­preu­ßens im Jahr 1945: „Die Kata­stro­phe, die über die­ses Gebiet mit dem Ein­zug der sowje­ti­schen Trup­pen her­ein­brach, hat in der moder­nen euro­päi­schen Geschich­te kei­ne Par­al­le­le. Es gab wei­te Land­stri­che, in denen, wie aus den Unter­la­gen ersicht­lich, nach dem ers­ten Durch­zug der Sowjets von der ein­hei­mi­schen Bevöl­ke­rung kaum noch ein Mensch – Mann, Frau oder Kind – am Leben war, und es ist ein­fach nicht glaub­haft, daß sie alle­samt in den Wes­ten ent­kom­men wären … Ich selbst flog kurz nach Pots­dam [gemeint ist die Pots­da­mer Kon­fe­renz vom 17. Juli bis 2. August 1945] mit einer ame­ri­ka­ni­schen Maschi­ne in ganz gerin­ger Höhe über die gesam­te Pro­vinz, und es bot sich mir ein Anblick eines voll­stän­dig in Trüm­mern lie­gen­den und ver­las­se­nen Gebiets: vom einen Ende bis zum ande­ren kaum ein Zei­chen von Leben … [Die Rus­sen hat­ten aus dem Land] die ein­hei­mi­sche Bevöl­ke­rung in der Manier hin­aus­ge­fegt, die seit den Tagen der asia­ti­schen Hor­den nicht mehr dage­we­sen ist“.
Auf Ein­zel­hei­ten ist hier nicht näher ein­zu­ge­hen; die Sta­tis­tik spricht für sich. In Ost­preu­ßen wohn­ten 1940 etwa 2,2 Mil­lio­nen Men­schen. Ende Mai 1945 regis­trier­te die sowje­ti­sche Geheim­po­li­zei NKWD noch 193.000. Über 100.000 davon leb­ten in Königs­berg. Nur etwa 20000 Königs­ber­ger haben die soge­nann­te Befrei­ung überlebt.
Auf­grund der schmerz­li­chen Leh­ren der jugo­sla­wi­schen Ereig­nis­se der neun­zi­ger Jah­re wis­sen wir heu­te, daß Greu­el­ta­ten und Mas­sen­mord kühl kal­ku­lier­te Mit­tel der eth­ni­schen Säu­be­rung sein kön­nen. Die Sowjet­po­li­tik ist nach­ge­ra­de als Schul­bei­spiel zu betrachten:
Da war zunächst die gewal­ti­ge, ras­sis­tisch gefärb­te Haß­kam­pa­gne, an der prak­tisch alle regime­treu­en Lite­ra­ten mit­wirk­ten. Die Kom­mu­nis­ten kann­ten damals nur ein Gebot: Töte die Deut­schen! Fast drei Jah­re lang häm­mer­ten Tau­sen­de von Zei­tungs­ar­ti­keln, Radio­sen­dun­gen und Flug­blät­tern dem Rot­ar­mis­ten die­se For­de­rung ein. Der Schrift­stel­ler Ilja Ehren­burg sah in den Deut­schen schlicht­weg Pest­ba­zil­len: „Unter ihres­glei­chen betrach­ten die Mikro­ben wahr­schein­lich Pas­teur als einen Mör­der. Aber wir wis­sen, daß er, der die Mikro­ben der Toll­wut und Pest tötet, der wah­re Men­schen­freund ist“.
Hin­zu kamen auf­peit­schen­de Auf­ru­fe der sowje­ti­schen Heer­füh­rer. An der deut­schen Gren­ze wur­den Schil­der mit dem Hin­weis auf­ge­stellt: „Sol­dat, jetzt betrittst du die Höh­le der faschis­ti­schen Bes­tie!“ Oder: „Rot­ar­mist, du stehst jetzt auf deut­schem Boden – die Stun­de der Rache hat geschlagen!“
Wie tief die ras­sis­ti­sche Pro­pa­gan­da viel­fach ins Unter­be­wußt­sein ein­ge­drun­gen war, zeigt eine Bemer­kung von Gene­ral Maslow, einem Divi­si­ons­kom­man­deur unter Schu­kow. Er berich­tet von deut­schen Kin­dern, die in einer bren­nen­den Stadt ver­zwei­felt nach ihren Eltern schrie­en. „Das Erstaun­lichs­te für mich war“, schrieb Maslow, „daß sie genau so wei­nen wie unse­re Kin­der.“ Weni­ger indok­tri­nier­te Rot­ar­mis­ten warn­ten mehr­fach die zurück­ge­blie­be­nen Deut­schen: „Die nach uns kom­men sind schlecht“ oder: „Nach uns kom­men Stalin-Schüler“.
Hand in Hand mit der Haß­pro­pa­gan­da ging die Straf­lo­sig­keit für Ver­bre­chen an der Zivil­be­völ­ke­rung. Ein und die­sel­be Tat, in der Hei­mat ein gemei­nes Ver­bre­chen, galt nun plötz­lich als patrio­ti­sche Leis­tung. Mos­kaus Pro­pa­gan­da hat spä­ter die Mas­sen­ver­bre­chen geleug­net; die weni­gen Aus­schrei­tun­gen, die es gege­ben habe, sei­en aus „ver­ständ­li­cher Erbit­te­rung“ über die NS-Ver­bre­chen in der Sowjet­uni­on erfolgt.

Am 14. April 1945, als die Rote Armee Oder und Nei­ße erreicht hat­te, erschien in der Praw­da auf Befehl Sta­lins der Grund­satz­ar­ti­kel des Chef­ideo­lo­gen des Zen­tral­ko­mi­tees, Alex­an­d­row: „Der Genos­se Ehren­burg ver­ein­facht zu sehr.“ Er mach­te klar, daß man nicht die Aus­rot­tung der Deut­schen beab­sich­ti­ge, son­dern sich künf­tig an das alte Sta­lin­wort hal­ten wol­le: „Die Hit­ler kom­men und gehen, aber das deut­sche Volk wird es immer geben.“ Vom Ende der Haß­pro­pa­gan­da bis zum Ende der Haß­de­lik­te war es aber noch ein wei­ter Weg.
Nicht uner­wähnt blei­ben soll­te hier schließ­lich noch die Ver­schlep­pung von annä­hernd 900.000 Zwangs­ar­bei­tern, die auf der Kon­fe­renz von Jal­ta (4. bis 11. Febru­ar 1945) sogar die Zustim­mung der West­mäch­te fand. 500.000 Deut­sche aus den Ver­trei­bungs­ge­bie­ten nann­te man „Repa­ra­ti­ons­ver­schlepp­te“, weil Mos­kau ihre Zwangs­ar­beit als eine Form der Repa­ra­tio­nen ansah. Der Rest waren zwangs­re­pa­tri­ier­te Ruß­land- und Bal­ten­deut­sche, eini­ge tau­send stamm­ten aus der sowje­ti­schen Besat­zungs­zo­ne. Das Schick­sal die­ser moder­nen Skla­ven war noch wesent­lich grau­sa­mer als das der soge­nann­ten Ost­ar­bei­ter unter Hit­ler: Müt­ter wur­den von ihren Kin­dern getrennt; 15 – 16 Arbeits­stun­den pro Tag waren die Regel. Nur gut die Hälf­te der Zwangs­ar­bei­ter über­leb­te, meist mit schwe­ren Gesundheitsschäden.
Nicht uner­wähnt blei­ben soll­te schließ­lich die üble Rol­le vie­ler NSGrö­ßen, die die Eva­ku­ie­rung der bedroh­ten Gebie­te wider bes­se­res Wis­sen über Gebühr ver­zö­gert hat­ten, sich selbst in letz­ter Minu­te in den Wes­ten absetz­ten und die Bevöl­ke­rung – im wesent­li­chen nur noch Frau­en, Kin­der und Grei­se – ihrem Schick­sal über­lie­ßen. Zu allem Über­druß wur­den die vor­han­de­nen Alko­hol­vor­rä­te viel­fach nicht ver­nich­tet in dem Glau­ben, dadurch die Kampf­kraft des Fein­des zu unter­gra­ben. Die Fol­gen für die zurück­ge­blie­be­nen Deut­schen waren verheerend.
Reli­giö­se Men­schen in Schle­si­en und anders­wo hoff­ten, nach dem Über­gang der Ver­wal­tung von den „gott­lo­sen Sowjets“ auf die „katho­li­schen Polen“ wür­den sich die Zustän­de bes­sern; sie wur­den bit­ter ent­täuscht. Die pol­ni­sche Miliz war oft aus sehr frag­wür­di­gen Ele­men­ten zusam­men­ge­setzt. Zwar schätz­te man Kreu­ze, Madon­nen und Herz-Jesu- Bil­der in den Autos, ver­hielt sich aber im übri­gen alles ande­re als christ­lich. Zum Zweck des ord­nungs­ge­mä­ßen Trans­fers“ und der „poli­ti­schen Säu­be­rung“ wur­den 1255 Lager ver­schie­de­ner Grö­ße und 227 Gefäng­nis­se ein­ge­rich­tet, in denen sich oft Sadis­mus und exzes­si­ve Grau­sam­keit aus­to­ben konn­ten. Eini­ge die­ser Lager müs­sen sogar als Ver­nich­tungs­la­ger bezeich­net wer­den. Zum The­ma der Nach­kriegs-KZs gibt es reich­lich Lite­ra­tur. Beson­ders unter die Haut geht uns heu­te viel­leicht das Buch des pro­mi­nen­ten US-Jour­na­lis­ten John Sack Auge um Auge, weil es in nüch­ter­ner Spra­che pro­fes­sio­nell berich­tet und auch Inter­views mit ehe­ma­li­gen Lager­kom­man­dan­ten enthält.
Auch im tsche­cho­slo­wa­ki­schen Macht­be­reich eta­blier­ten sich nach Kriegs­en­de Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger, Gefäng­nis­se und Fol­ter­kel­ler. Ihre Betrei­ber waren selbst­er­nann­te Par­ti­sa­nen, die ihren „Wider­stand“ – anders als ihre pol­ni­schen Kol­le­gen – meist erst nach dem 8. Mai 1945 begon­nen hat­ten. In Prag wur­den Pogro­me und ande­re For­men der Deut­schen­hatz zeit­wei­se sogar zum Volks­sport. Dou­glas Bot­ting schreibt in sei­nem Buch In the Ruins of the Reich: „Tsche­chi­sche Bür­ger, die den Drang ver­spür­ten, zu fol­tern oder zu töten, konn­ten ihre Opfer per­sön­lich unter den Deut­schen aus­wäh­len, die man wie leben­der Hum­mer in einem Fisch­lo­kal in den Kel­lern der soge­nann­ten Par­ti­sa­nen hielt“.

In Prag wur­de 1945 auch der Juden­stern neu erfun­den. Sämt­li­che Deut­sche muß­ten wei­ße Stoff­tei­le mit dem Buch­sta­ben N (für Nemec = Deut­scher) tra­gen. Für sie gal­ten admi­nis­tra­ti­ve Schi­ka­nen und gekürz­te Lebens­mit­tel- Ratio­nen, die Hit­lers Juden­ge­set­zen nach­ge­bil­det waren. Durch Gesetz vom 8. Mai 1946 wur­den außer­dem alle Ver­bre­chen an Deut­schen zu recht­mä­ßi­gen Hand­lun­gen erklärt. Ein noch grau­sa­me­res Schick­sal traf nur die Deut­schen in Jugo­sla­wi­en. Von 200.000 nicht geflüch­te­ten Zivi­lis­ten wur­den 170.000 in Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger gesteckt. 51000 sind ermor­det wor­den oder in den Lagern elend zugrun­de gegangen.
Sum­ma sum­ma­rum war die Deut­schen­ver­trei­bung von 1945 die größ­te eth­ni­sche Säu­be­rung der Welt­ge­schich­te. Die his­to­ri­sche Dimen­si­on wird etwas deut­li­cher, wenn man sich vor Augen hält, daß die Bevöl­ke­rung aller Ver­trei­bungs­ge­bie­te (unter Ein­be­zie­hung der ver­schlepp­ten Ruß­land­deut­schen) damals in etwa der­je­ni­gen der Repu­bli­ken Irland, Island und Finn­land sowie der König­rei­che Däne­mark, Nor­we­gen und Schwe­den – zusam­men­ge­nom­men! – ent­spricht. Zu erin­nern ist auch an min­des­tens 2,5 Mil­lio­nen ver­ge­wal­tig­te Frau­en im deut­schen Sprach­raum. Weit über 40 Pro­zent wur­den mehr­fach ver­ge­wal­tigt, etwa 12 Pro­zent der Opfer star­ben an den Fol­gen oder durch Selbst­mord. Bedenkt man, daß sich die Rote Armee in Ungarn und sogar in Jugo­sla­wi­en und Polen fast eben­so schlimm benom­men hat, dann wird schnell klar, daß es sich hier um die größ­te Mas­sen­ver­ge­wal­ti­gung han­delt, die Euro­pa jemals gese­hen hat.
Die Zahl der Deut­schen, die bei der Ver­trei­bung durch geziel­te Tötungs­hand­lun­gen oder an Miß­hand­lung, Erschöp­fung, Käl­te oder Hun­ger star­ben, hat das Sta­tis­ti­sche Bun­des­amt 1958 mit 2,23 Mil­lio­nen errech­net – ohne die Opfer von Ruß­land­deut­schen und der zuge­zo­ge­nen West­deut­schen. Berück­sich­tigt man auch deren Ver­lus­te, so kommt man auf 2,8 bis 3 Mil­lio­nen Men­schen, die durch Ver­trei­bung oder Ver­schlep­pung ihr Leben ver­lo­ren. Das ent­spricht etwa der sei­ner­zei­ti­gen Ein­woh­ner­zahl der Repu­blik Irland.
All die­se Vor­gän­ge erfül­len den Tat­be­stand des Geno­zids gemäß der UNO-Kon­ven­ti­on über den Völ­ker­mord und gemäß Para­graph 6 des deut­schen Völ­ker­straf­ge­setz­buchs. Dies hat der inter­na­tio­nal bekann­te und aner­kann­te UN-Gut­ach­ter Prof. Felix Erma­co­ra schon 1991 und 1996 in zwei umfang­rei­chen Exper­ti­sen fest­ge­stellt. Erst 1999 schloß sich die deut­sche Jus­tiz in ein­deu­ti­ger Wei­se der Rechts­auf­fas­sung Erma­co­ras an. Die Erleb­nis­se der Zivil­be­völ­ke­rung im Jahr 1945 las­sen sich also nicht auf eine simp­le Kurz­for­mel brin­gen, am wenigs­ten auf die von der rei­nen Befrei­ung. Am ehr­lichs­ten hat viel­leicht der ers­te Bun­des­prä­si­dent Theo­dor Heuss geur­teilt: „Die­ser 8. Mai ist die tra­gischs­te und frag­wür­digs­te Para­do­xie für jeden von uns. War­um denn? Weil wir erlöst und ver­nich­tet in einem gewe­sen sind“.

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