Negoi – Eine Wanderung

pdf der Druckfassung aus Sezession 16/Februar 2007

In der Wandererhütte am Fuße des Negoi, in der Gaststube der Cabana,...

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

aß ich eine dicke Gemü­se­sup­pe aus Kohl, Rüben, Lauch und Zwie­beln, ver­sal­zen auf Wunsch, gegen die Krämp­fe in den Bei­nen. Das Gemü­se für die Sup­pe hat­te der Wirt neben Gas­fla­schen, Wein und ein paar neu­en Zie­geln für die fri­schen Sturm­schä­den am Schlepp­dach sei­ner Hüt­te mit Maul­tie­ren aus dem Tal an die Baum­gren­ze geschafft, weil es auf den schma­len Pfa­den gar nicht anders geht. Als die klei­ne Kara­wa­ne um die Mit­tags­zeit an mir vor­bei­zog, sah ich, wie der Wirt mit sei­nem han­dy eine Nach­richt ver­schick­te, als sei dies ganz nor­mal, weit oben in den Südkarpaten.

Den­sel­ben schrof­fen Gegen­satz hat­te ich in der Nacht zuvor erlebt, als ich mein Tages­ziel erreich­te: ein klei­nes Kaff, in dem nicht eine Lam­pe brann­te, durch das ich nur stol­pern konn­te, so fins­ter war es dort. Als ich dann die Tür zur Knei­pe öff­ne­te, fiel blau­es Licht her­aus, an vier Flach­bild­schir­men wur­de im Inter­net gechat­tet: viel­leicht mit irgend­wel­chen jun­gen Leu­ten, die aus dem Kaff am Fuße des Negoi, dem Kaff, in dem nicht eine Lam­pe brann­te, nach Kana­da geflo­hen waren, nach Deutsch­land, Frank­reich oder in die USA.
Tags dar­auf traf ich einen der Chat­ter wie­der, als ich das Dorf ver­ließ und den Pfad in die Höhe fand: Er trieb vor mir die Büf­fel der Gemein­de auf eine Wei­de. Er pfiff dabei ein Lied und schien am abend­li­chen Blick ins Inter­net, am sekun­den­schnel­len Flug durch tau­send vir­tu­el­le Räu­me nicht all­zu lan­ge zu ver­dau­en. Gleich erkann­te er mich wie­der, und wir zogen ein Stück gemein­sam wei­ter. Dann lager­te er sich im Schat­ten einer Mau­er und wünsch­te mir viel Glück auf mei­nem Weg. Als ich nach einer hal­ben Stun­de noch ein­mal zurück­blick­te, sah ich ihn noch immer an der Mau­er sit­zen, und ich sah auch die klei­ne Kara­wa­ne, die der Wirt führ­te und die mich in zwei Stun­den ein­ge­holt haben würde.
Nun speis­te ich also in der Berg­hüt­te mei­ne Sup­pe. Nach der Mahl­zeit setz­te ich mich auf eine Bank ins Freie, um zu rau­chen. Aus dem Schat­ten eines Bau­mes lös­te sich ein alter Mann und sprach mich an, auf Deutsch, akzentfrei.
Was ich hier mach­te, frag­te er, war­um ich hier sei und wie mir Rumä­ni­en gefal­le. Und dann ent­schul­dig­te er sich und sag­te, sein Name sei Mihail.
Was woll­te ich in Rumä­ni­en? Wan­dern, in Ruhe wan­dern, über­haupt: Ruhe. Pfer­de­kar­ren, Sen­sen und Brun­nen­was­ser, das war der Rhyth­mus, den ich mir gefal­len ließ für einen Gang nach Innen. Ich woll­te ein wenig nach ver­lo­re­nen Din­gen suchen.
Mihail, mit dem ich gleich ein Bier trank, ver­stand, was ich mein­te, er ver­stand es so gut, daß er mich, indem er es von sei­ner War­te aus deu­te­te, regel­recht entlarvte.
Mihail erklär­te mir, daß mei­ne Hei­mat schnell, glatt, durch­or­ga­ni­siert sei, und daß ich mich aus Über­druß in die Rus­ti­ka­li­tät und in das ein­fa­che Leben sei­ner Hei­mat stürz­te, in ein Leben also, das in Deutsch­land so nicht mehr zu fin­den war.

„Aber du begeg­nest”, erklär­te mir Mihail, „mei­ner Hei­mat inmit­ten eines gro­ßen Frei­raums, den ich nicht ken­ne, und den kein Rumä­ne kennt. Du trägst drei mitt­le­re Monats­löh­ne mit dir her­um. Das macht frei. Und du weißt, daß du die­ses Land wie­der ver­las­sen wirst. Das macht gedul­dig. Eigent­lich nimmst du ein Bad, ein, zwei Mal im Jahr ein gro­ßes Bad. Du läßt eure schnel­len Städ­te und eure lau­ten Beru­fe zurück und badest dich gesund in unse­rer Ruhe oder Anspruchs­lo­sig­keit oder: Rück­stän­dig­keit. Dir wird selbst das War­ten auf den Bus zur erle­bens­wer­ten Gegen­wart, weil du auf die­sen Bus nicht ange­wie­sen bist.”
Ich muß­te ja sagen zu allem, was Mihail mir erklär­te. Ich muß­te ihm ein­ge­ste­hen, daß alles, was ich für echt hielt, künst­lich her­bei­ge­führt war. Wenn ich in einem Dorf bei Her­mann­stadt die bei­den letz­ten Deut­schen besuch­te, einen Bau­ern und sei­ne Schwes­ter, und den bei­den half, eine Wie­se mit der Sen­se zu mähen oder ein paar Klaf­ter Holz zu spal­ten: selbst dann leb­te ich genau­ge­nom­men auf Kos­ten der bei­den alten Leu­te, die ja gar nicht anders konnten.
Denn hät­ten sie das Geld gehabt für einen Rumä­nen und sei­nen Trak­tor, für einen Zigeu­ner und sei­ne Hack­ma­schi­ne, dann wäre die Wie­se nach einer Stun­de gemäht, dann wäre das Holz nach einem Tag geklaf­tert gewesen.
Und ich? Ich hat­te die­ses Geld und kam nicht auf den Gedan­ken, es für die Alten ein­zu­set­zen; ich bot statt des­sen mei­ne Stu­den­ten­ar­me und war stolz, als man mich lob­te, weil ich Stun­de um Stun­de mit dem Beil Stü­cke eines Eichen­stamms ofen­ge­recht hack­te. Der Moment selbst: Er war stets so echt. Aber es muß­te alles nicht sein. Aus der Distanz betrach­tet: ein Spiel, ein Luxus, sogar ein wenig Selbstgefälligkeit.
Ich war beschämt, und Mihail sah mir das an und lach­te und sag­te „Prost”, und ich – nach­dem ich einen Schluck getrun­ken hat­te – beton­te, daß ich eben jetzt sehr viel gelernt hät­te. Dann frag­te ich Mihail, woher er so gut Deutsch könne.
„Als jun­ger Mann”, erzähl­te Mihail, „habe ich ein gan­zes Jahr in Hei­del­berg ver­bracht, bloß um an dem Ver­such zu schei­tern, auch nur ein ein­zi­ges Gedicht von Höl­der­lin – ich hal­te ihn für magisch – nach Klang und Sinn und Rhyth­mus ins Rumä­ni­sche zu über­set­zen. Andenken und Brod und Wein und ganz zuletzt wars das vom Blin­den Sän­ger, dazwi­schen vie­le ande­re, die Titel habe ich mir nicht behalten.”
Ich sah, daß er nach einer Zei­le such­te, die er vor mir zitie­ren könn­te. Das war so wun­der­lich, so wenig nahe­lie­gend nach den paar Minu­ten, die wir im kal­ten Abend­wind, im Schat­ten der Caba­na, ver­plau­dert hatten.
Doch ihm fiel kei­ne Zei­le ein. So frag­te er mich, ob ich denn mit Andenken, Brod und Wein und Der blin­de Sän­ger etwas anzu­fan­gen wüß­te. „Lang lieb ich dich schon”, ant­wor­te­te ich, „möch­te dich mir zur Lust Mut­ter nen­nen und Dir sin­gen ein kunst­los Lied, du, der Vater­lands­städ­te länd­lich­schöns­te so viel ich sah.”
„Hei­del­berg”, sag­te Mihail lächelnd.
„Eben”, sag­te ich.

Dann erzähl­te ich, daß ich vor mei­ner Mahl­zeit, vor der ver­sal­ze­nen Gemü­se­sup­pe, an ein Regal getre­ten sei: die Biblio­thek der Bau­de, und daß allein der Umstand mich begeis­tert habe, in die­ser Hüt­te, in der doch alles leicht maro­de, in der doch alles so zufäl­lig, auf kur­ze Frist, auf Abbruch hin gebaut und ein­ge­rich­tet schei­ne, sich eine Bücher­samm­lung finde.
Ein Buch­re­gal mit Hun­der­ten von Büchern, dar­un­ter auch ganz neue Sachen, und schon der drit­te oder vier­te Band, den ich aus einem der Rega­le zog, ver­lei­te­te mich dazu, die gan­ze Samm­lung Buch für Buch zu über­flie­gen: Es waren deut­sche Bücher und ame­ri­ka­ni­sche, kein Kitsch, kein Gro­schen­heft, nur gut gebun­de­nes, von Grass und Andersch, Heming­way und Updi­ke, ohne Staub, gera­de so, als wür­de stän­dig einer lesen. Was ich mich dann frag­te, nach­dem ich schon vor mei­ner Sup­pe saß, war, war­um in kei­nem der Rega­le auch nur ein ein­zi­ger Rumä­ne mit auch nur einem sei­ner Wer­ke ver­tre­ten sei, noch nicht ein­mal das Drei­ge­stirn, das nach dem Krieg im Aus­land blieb: kein Elia­de, kein Cioran und kein Ionesco.
„Und die­ser Umstand ist”, so sag­te ich, „bezeich­nend für ein Land, das – wie aus einem unge­woll­ten Schlaf erwacht – nun alles von sich stößt, was man das Eig­ne nen­nen kann, und alles aus­pro­biert, was aus der Welt der Frei­heit stammt.”
Mihail nickte.
„Viel­leicht jedoch”, schloß ich mit einem Lachen, „steckt in die­sem Bei­spiel gar kein höhe­rer Sinn, son­dern bloß ein lus­ti­ger Zufall: Viel­leicht näm­lich hat der Wirt von einem Sie­ben­bür­ger Sach­sen, der das Land ver­ließ, den gan­zen Bücher­schrank geschenkt bekom­men und ihn nun dort, wo hin und wie­der deut­sche Wan­de­rer vor einer Sup­pe säßen, zu deren Über­ra­schung aufgestellt.
Mihail lach­te nicht mit, er nick­te nur und sag­te, daß auch ein lus­ti­ger Zufall kein Zufall sei. Wer ein Zei­chen für einen Zufall hal­te, las­se sich täu­schen. Wäh­rend ich dar­über nach­dach­te, ob die­ser Satz stim­men konn­te, sah ich dicht unter dem Kamm ein Geröll­feld, das sich in eine Schaf­her­de ver­wan­del­te: Ein paar Tie­re zogen von der Wei­de zum Bach und dann hin­über, die ande­ren folg­ten nach und nach. Das Geröll­feld beul­te sich und floß ab, und lang­sam glitt eine Per­len­ket­te in ein grü­nes Fut­te­ral. Geröll sam­mel­te sich auf der ande­ren Sei­te des Baches und häuf­te sich zur Nacht. Drum­her­um wür­den ein paar Köter schlei­chen, dar­un­ter eine Dog­ge mit gelb­li­chem Fell.
„Was hast Du von Elia­de gele­sen”, frag­te unver­mit­telt Mihail.
„Das Hei­li­ge und das Pro­fa­ne”, ant­wor­te­te ich.
„Ich mei­ne: von den Romanen?”
„Noch kei­nen”, ant­wor­te­te ich.
„Ich emp­feh­le Dir den Hun­dert­jäh­ri­gen”, sag­te Mihail.
Als ich dann spä­ter in der Gast­stu­be auf einer Holz­bank mei­nen Schlaf­sack aus­brei­te­te, dach­te ich dar­an, wie selt­sam die letz­te Ant­wort war, die Mihail mir gab, bevor wir unser Gespräch been­de­ten und er hin­ter sei­nem Baum ver­schwand. Was er so mache, hat­te ich gefragt, was er hier oben so mache.

„Schau genau­er hin”, hat­te er geant­wor­tet. „Über­flie­gen reicht nicht.” In der Nacht brach ein Unwet­ter vom Berg her über die Hüt­te her­ein. Der Wirt rann­te nach den Fens­ter­lä­den, ich half, wo ich konn­te, und dann saß ich beim Licht einer Petro­le­um-Lam­pe in der Gast­stu­be und hör­te Don­ner auf Don­ner gegen die Berg­hän­ge rol­len: ein unaus­ge­setz­tes Grol­len, unter­bro­chen bloß durch har­te Schlä­ge, wenn die Blit­ze näher einschlugen.
Irgend­wann wur­de es stil­ler. Ich trat an den Bücher­schrank, der von der Lam­pe nur spar­sam aus­ge­leuch­tet war. Nicht über­flie­gen, hat­te Mihail gesagt. Und so schau­te ich die Samm­lung noch ein­mal gründ­li­cher durch und stieß tat­säch­lich zwi­schen einer drei­bän­di­gen Kleist­aus­ga­be und einem Band moder­ner deut­scher Erzäh­ler tat­säch­lich auf ein Buch von Elia­de. Es war Der Hun­dert­jäh­ri­ge, in deut­scher Über­set­zung. Und weil ich gar nicht müde war, brüh­te ich mir in einer Blech­t­as­se über der Flam­me mei­ner Lam­pe einen star­ken Kaf­fee, setz­te mich in mei­nen Schlaf­sack und begann zu lesen. Ich las den Hun­dert­jäh­ri­gen ohne abzu­set­zen, und als ich die letz­te Sei­te gele­sen hat­te, leg­te ich das Buch bei­sei­te und starr­te in den Raum. Es däm­mer­te und ich nick­te ein.
Der Mor­gen war neb­lig und kühl. Ich frös­tel­te, als ich mich von der Holz­bank im Spei­se­zim­mer erhob und das Fens­ter auf­stieß. Ich wusch mich am Brun­nen, stell­te das Buch zurück und roll­te mei­nen Schlaf­sack ein.
Mich ärger­te das Geheim­nis­vol­le oder Son­der­ba­re an die­ser Über­ein­stim­mung, mich ärger­te, daß mich der Fund auf­for­der­te, die abend­li­che Begeg­nung mit Mihail und den nächt­li­chen Fund im Regal in einen Zusam­men­hang zu stel­len und die­sen Zusam­men­hang aus­zu­deu­ten. War­um stand gera­de der Hun­dert­jäh­ri­ge in die­ser Samm­lung? War­um nicht irgend etwas ande­res von Elia­de? War­um begann die Erzäh­lung mit einem furcht­ba­ren Gewit­ter? Ich wisch­te die Gedan­ken weg, der Mor­gen war nicht danach, mir war nicht danach, ich woll­te wan­dern, woll­te einen kla­ren, küh­len Auf­stieg auf den Gip­fel des Negoi, ganz ohne Ver­schie­bung der Per­spek­ti­ve. Ich woll­te mei­ne Ruhe.
Ein rascher Kaf­fee, ein paar Kek­se, ich trat vor die Hüt­te. Der Wirt ersetz­te Zie­gel und rief irgend etwas von der Lei­ter her­un­ter, als ich mei­nen Ruck­sack schul­ter­te und in den Pfad ein­stieg, der auf den Gip­fel füh­ren soll­te. Die Stei­ne und die frei­ge­spül­ten Wur­zeln der letz­ten Bäu­me waren glit­schig, die Luft war schwer und duns­tig, die frü­he Son­ne koch­te den nas­sen Boden aus. Weit oben sah ich die Schaf­her­de auf dem letz­ten grü­nen Fleck lagern. Ich muß­te dicht an ihr vor­bei­kom­men, ich ging eigent­lich stän­dig an irgend­wel­chen Scha­fen vor­bei, seit ich wanderte.
Vor drei Tagen war ich auf dem Weg ins Gebir­ge am Ende eines lang­ge­streck­ten Tals an einem Wald ange­langt. Unter den weni­gen vor­ge­la­ger­ten Baum­in­seln ruh­te in der Mit­tags­hit­ze eine Schaf­her­de. Am Hang sah ich ein­fa­che Gat­ter, eine Schä­fer­hüt­te, ein Was­ser­loch. Ich schlug einen Bogen, um den Scha­fen nicht zu nahe zu kom­men, und erwar­te­te das Gebell anstür­men­der Köter. Doch es blieb ruhig.

Ich sah die Schä­fer erst, als ich zwi­schen die Bäu­me trat. Für den Weg durch den Wald schloß sich mir einer von ihnen an, er sprach Deutsch, weil er bis zur Wen­de als Ange­stell­ter einer LPG gear­bei­tet und sei­ne Aus­bil­dung in der DDR abge­schlos­sen hat­te. Im Dorf hat­te man mir erzählt, daß erst ges­tern Wöl­fe zur Mit­tags­zeit in die ruhen­de Her­de ein­ge­bro­chen wären. Der Schä­fer hat­te den Kampf mit den Wöl­fen mit­er­lebt. Die pani­sche Her­de sei in den Wald gesto­ben und hät­te zwei Opfer zurück­ge­las­sen. Von den mit­tags­schläf­ri­gen Hun­den, die von den Schä­fern in einen Angriff geprü­gelt wur­den, sei einer mit zer­bis­se­ner Keh­le am Abend erst ver­en­det, den Kopf in einer Pfüt­ze. Ich hat­te ihn noch lie­gen sehen, als ich die Her­de umging.
Als ich die Fra­ge bejah­te, ob ich Schaf­fleisch ger­ne moch­te, schlug mir der Schä­fer eine Spe­zia­li­tät vor, die ich bei ihm zu Hau­se kos­ten und erwer­ben könnte.
„Du nimmst ein Milch­lamm, das gera­de bei sei­ner Mut­ter getrun­ken hat, wirk­lich gleich danach, und erschlägst es. Du nimmst ihm den Magen und legst ihn in ein Bett glü­hen­der Koh­len, wen­dest ihn, bis er durch­ge­bra­ten ist. Stich den klei­nen Magen an, es darf kei­ne Milch dar­aus trop­fen. Sie ist zu Käse gewor­den und du kannst den Magen in Schei­ben schneiden.”
Aber ich woll­te nichts von die­sem Milch­ma­gen. Wir trenn­ten uns in sei­nem Dorf, das im Tal hin­ter dem Wald lag. Nur einer sei­ner schie­len­den Köter lief mir ein Stück nach und troll­te sich erst, als der Schä­fer zum drit­ten Mal pfiff und einen Stein nach ihm warf.
Auch jetzt, als ich der Her­de im Gebir­ge näher­kam, hoff­te ich auf einen Schä­fer. Ich hat­te Angst vor den Kötern, die bei der Her­de lager­ten. Das waren kei­ne Schä­fer­hun­de, wie ich sie aus Deutsch­land kann­te: abge­rich­tet, folg­sam, wach­sam. Das war eine Meu­te, das waren fünf, zehn, manch­mal noch mehr strup­pi­ge Bei­ßer, die nur des­halb bei der Her­de blie­ben, weil man ihnen ab und zu ein schwa­ches oder kran­kes Schaf zutrieb.
Immer wie­der hat­te mich der deut­sche Bau­er, bei dem ich aus­half, vor die­sen Kötern gewarnt, vor allem am Mor­gen noch, als ich auf­bre­chen woll­te. Da trat ich früh in sei­ne klei­ne Küche, das Feu­er brann­te schon, der Bau­er selbst war im Stall, um sei­nen Büf­fel zu mel­ken. Ich setz­te Milch vom Vor­tag auf und schnitt Brot hin­ein. Auf dem Tisch lagen Brot, Speck, Zwie­beln, Käse und Papri­ka für mei­ne Wan­de­rung. Der Bau­er beglei­te­te mich ans Tor.
„Den Stock da nimmst du mit. Und ach­te auf die Hun­de bei den Her­den. Den Schärfs­ten bin­den die Schä­fer ein Quer­holz vor die Läu­fe, das soll sie unbe­weg­lich machen. Im Zwei­fels­fall aber hin­dert sie das an gar nichts.”

An die­se War­nung dach­te ich, als es her­an­bell­te. Ich stand nach einem schma­len Durch­stieg mit­ten in der Her­de, die zu bei­den Sei­ten des Tram­pel­pfads wei­de­te. Der ers­te Köter sprang von rechts vor­ne an, die Lef­zen bis übers Zahn­fleisch gezo­gen, und er sprang genau in mei­nen Hieb. Er blieb benom­men neben dem Pfad lie­gen. Drei ande­re stie­ßen keh­lig vor und zurück, aber mein Stock hielt sie fern. Dann tauch­te eine Dog­ge mit gelb­li­chem Fell auf, der ein schwe­res Quer­holz an einer Ket­te bei jedem Schritt gegen die Gelen­ke schlug. Doch ver­hin­der­te dies nicht den Angriff. Der kam wie bei­läu­fig, weil die Dog­ge den eili­gen Gang nicht ver­zö­ger­te oder in einen Sprung mün­den ließ; sie trab­te in mich hin­ein und ich schlug ihr Maul aus mei­ner Rich­tung. Sie warf sich her­um, schnapp­te und ver­biß sich in mei­nen Stock.
Dann end­lich kam der Schä­fer. Mit dre­hen­den Schrit­ten und sie­ben Scha­len unter sei­nem Umhang trat er hin­ter einem Fel­sen her­vor und ver­jag­te mit Stei­nen und Flü­chen sei­ne Hun­de. Die Dog­ge gab erst auf, als ihr der Hir­ten­stab in den Nacken krach­te. Sie lager­te sich mit ihrem Rudel abseits.
Der Schä­fer stand vor mir, es war Mihail. Ich hat­te kei­ne Lust, mit ihm zu plau­dern, ich hat­te eine maß­lo­se Wut, und als er zu lachen begann, setz­te ich mei­nen Weg fort. Er hol­te mich ein.
„Nein, Nein” sag­te er. „Du hast ja recht. Das war gefähr­lich. Das war unver­zeih­lich von mir. Komm, setz Dich her, die Nacht war schreck­lich, ich bin froh, Dich zu sehen.”
Jetzt erst fiel mir ein, daß Mihail das Gewit­ter bei sei­nen Scha­fen ver­bracht haben muß­te. Ich dach­te an den Hun­dert­jäh­ri­gen, als ich in sein Gesicht blick­te und über­mü­de­te Augen sah.
„Jün­ger bist Du jeden­falls nicht gewor­den”, sag­te ich. „Außer­dem ist nicht Oster­nacht, son­dern Hoch­som­mer, und soweit ich ver­stan­den habe, muß einen der Blitz in der Oster­nacht erwischen.”
„Du hast das Buch gefun­den”, sag­te Mihail zufrie­den. „Und Du hast es gele­sen. Ich dach­te an Dich, als ich heu­te nacht ver­such­te, die Hüt­te zu errei­chen. Aber es war zu gefähr­lich. Also habe ich mich wie­der zwi­schen den Fel­sen ver­kro­chen und ein paar Gedich­te gebrummt.”
„Doch uns gebührt es, unter Got­tes Gewit­tern, / Ihr Dich­ter! mit ent­blöß­tem Haup­te zu ste­hen, / Des Vaters Strahl, ihn selbst, mit eige­ner Hand / Zu fas­sen und dem Volk ins Lied / Gehüllt die himm­li­sche Gabe zu rei­chen.” „Wie­der Höl­der­lin”, sag­te Mihail zufrie­den. „Wie heißt das Gedicht?”
„Mir fällt es nicht ein”, sag­te ich. „Jeden­falls hast Du nach einer sol­chen Nacht wie­der eine Geschich­te mehr zu erzählen.”
„Ich habe Dir ja noch nicht ein­mal mei­ne bes­te erzählt. Kennst Du die Mio­ri­ta, die Geschich­te vom klei­nen weis­sa­gen­den Lämm­chen?”, frag­te Mihail. „Komm, ich erzäh­le sie Dir. Ich erzäh­le dir eine Geschich­te über uns Rumä­nen. Jeder hört sie in der Schu­le. Jeder fühlt, daß er so ist wie der gute Schä­fer in der Geschich­te. Wir spü­ren, obwohl wir längst anders sind oder anders sein wol­len, daß wir so sind wie der gute Schäfer.”

Mihail bot Schnaps aus einer alten Plas­tik-Was­ser­fla­sche an. Ich nahm mei­nen Ruck­sack auf und stieg vor­an. Mihail beglei­te­te mich. Und wäh­rend wir höher und höher stie­gen, erzähl­te er mir die Geschich­te vom guten Schäfer:
„In einem schö­nen Tal im Vor­land der Kar­pa­ten leb­ten drei Schä­fer. Sie kann­ten ein­an­der von jung auf und führ­ten ihre Her­den fried­lich auf die Hän­ge über dem Tal. Einer aber war geschick­ter als die ande­ren bei­den, flei­ßi­ger wohl auch. Jeden­falls gedieh sei­ne Her­de präch­tig und er wur­de ein rei­cher Mann. Das weck­te den Neid der bei­den ande­ren. Sie blick­ten Tag für Tag auf den Reich­tum ihres Freun­des und waren bald bereit, ihn umzu­brin­gen und sei­ne Habe aufzuteilen.
Eines Tages trieb der gute Schä­fer sei­ne Her­de ganz in die Nähe der bei­den Freun­de, um wie­der ein­mal Geschich­ten aus­zu­tau­schen und Neu­ig­kei­ten zu erfah­ren. Dabei hör­te das Lieb­lings­schaf des guten Schä­fers die ande­ren Scha­fe von dem bevor­ste­hen­den Mord spre­chen. Es eil­te zu sei­nem Herrn und berich­te­te, was es ver­nom­men hatte.
Der gute Schä­fer nahm dar­auf­hin sei­nen schwe­ren Wan­der­stab und zog mit sei­nem Lieb­lings­schaf ins Gebir­ge. Bald erreich­ten sie einen Fels­vor­sprung, der von einer gro­ßen Kie­fer beschat­tet wur­de. Unten rausch­te das Was­ser zu Tal.
Dies, sag­te der gute Schä­fer, ist mei­ne Hei­mat, mein Land. Sieh die hohen Ber­ge. Sieh das Was­ser, die Kie­fer, den Fels. Sieh mein Dorf und mei­ne Her­de, die wie Geröll am Hang liegt und auf mei­ne Rück­kehr war­tet. Alles, der Wind und der Regen und das Schilf in der hei­ßen Son­ne, war­tet auf mei­ne Rückkehr.
Und der gute Schä­fer stand lan­ge ver­sun­ken in den Anblick sei­ner Hei­mat. Weil ich aber bald ster­ben soll, sprach er zu sei­nem Lieb­lings­schaf, mer­ke dir die­se Stel­le. Hier sol­len mich mei­ne Mör­der begra­ben, und sie sol­len mei­ne Flö­te in die Zwei­ge hängen.
Und der gute Schä­fer wan­der­te den Weg zurück zu sei­ner Her­de. Ihm folg­te ver­zwei­felt sein Lieblingsschaf.”
Die Geschich­te war zu Ende. Mihail sah mich an. Er hat­te gut erzählt. Aber er war noch nicht fertig.
„Im Schä­fer, der für eine letz­te Nacht zurück zu sei­ner Her­de geht, liegt der Grund für alles, was in unse­rem Land so selt­sam ist. Nur Rumä­ni­en konn­te einen Stüm­per wie Ceauces­cu so lan­ge und wider­stands­los ertra­gen. Uns ging es
schlech­ter als allen ande­ren in Euro­pa, von den Alba­nern abge­se­hen. Aber wir haben nichts dage­gen unter­nom­men. Im Win­ter: vier­zehn oder sech­zehn Grad in den Woh­nun­gen, ab den frü­hen Acht­zi­gern wie­der Lebens­mit­tel­kar­ten, aber kein Auf­stand. War­um? Es liegt an dem Schä­fer, der nicht mit dem Mes­ser in der Hand auf sei­ne Freun­de lau­er­te. Es liegt dar­an, daß unse­re Vor­fah­ren kei­ne Bur­gen gegen die Tür­ken bau­ten. In den deut­schen Dör­fern Sie­ben­bür­gens ste­hen Kir­chen­bur­gen, die nie­mand je erober­te, obwohl das Dorf drum­her­um ein Dut­zend Mal bis auf die Fun­da­men­te nie­der­ge­brannt wur­de. Die Kir­chen­burg wur­de nicht erobert, weil eure Erzäh­lung nicht von einem Schä­fer auf dem Heim­weg han­delt, son­dern von einem Rit­ter, der Dra­chen tötet und bis zu sei­nem Tod gegen die Hun­nen kämpft.”
„So unge­fähr”, sag­te ich.
„Wie hieß die­ser Held?”
„Sieg­fried hat den Dra­chen getö­tet, Hagen in Etzels Saal bis zur Erschöp­fung gekämpft. Sie hei­ßen: die Nibe­lun­gen. Aber: Hagen hat Sieg­fried hin­ter­rücks mit dem Speer durchbohrt.”
„Hät­te Sieg­fried sich gewehrt, wenn er gewarnt wor­den wäre?” frag­te Mihail.

„Ja, er hät­te sich gewehrt. Er hät­te Hagen erschlagen.”
„Es ist nicht nur der ein­fa­che Unter­schied zwi­schen aktiv und pas­siv. Ich glau­be, es ist etwas Reli­giö­ses: Wir Rumä­nen sind Fata­lis­ten, wir ver­su­chen nicht, auf Teu­fel komm raus unser Schick­sal zu ändern. Wir geben uns dem Lauf der Din­ge hin, das ist wohl ein sehr weib­li­cher Zug. Die Tak­tik unse­rer Dör­fer auf der ande­ren Sei­te der Kar­pa­ten war nie die einer Burg. Man wich in die Wäl­der aus, man ließ den Feind wüten und wich in die Wäl­der aus.”
„Was dar­an ist religiös?”
„Warst du schon in einem ortho­do­xen Got­tes­dienst? Das sind drei Stun­den Lit­ur­gie, Weih­rauch, Gesang, und die Men­schen träu­men sich in Gott hin­ein, fal­len in einen Schlaf des Auf­ge­ho­ben­seins, der wil­len­lo­sen Gebor­gen­heit, wäh­rend in der evan­ge­li­schen Kir­chen­burg der Pas­tor das Wort aus­zu­le­gen hat, eine Leh­re zieht, eine Hand­lungs­an­wei­sung gibt, ein reli­giö­ses Bewußt­sein schafft. Das ist schon der gan­ze Unter­schied: Der Traum kommt über mich, Ziel und Behar­ren set­zen ein Bewußt­sein vor­aus. Ver­wand­le dich in einen Vogel – oder bau eine Burg.”
„Und wenn es doch noch etwas ande­res ist: bei­spiels­wei­se die Fähig­keit, im rich­ti­gen Moment in ein neu­es Gewand zu schlüpfen?”
Jetzt dach­te Mihail eine Wei­le lang nach.
„War­um bist Du Schä­fer gewor­den?”, frag­te ich.
„Weil es mir nicht gelang, ein Höl­der­lin-Gedicht zu über­set­zen”, sag­te Mihail.
Wir ver­ab­schie­de­ten uns am Grat, dem ich nun eine Stun­de bis zum Gip­fel des Negoi fol­gen wür­de. Eine Wet­ter­fah­ne knatterte.
„Sprach­los im Wind klir­ren die Fah­nen”, sag­te Mihail. „Das ist mir heu­te nacht wie­der ein­ge­fal­len. Über­set­zen kann ich es immer noch nicht, und ich ver­su­che es auch gar nicht mehr. Aber wer weiß, wann einen der Blitz trifft? Dann war die Hälf­te des Lebens doch nicht die Hälfte …”
Und er rief, als ich schon wei­ter war: „Hier oben gibt es kei­ne Köter!” Dann ver­schwand er zwi­schen den Felsen.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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