Krankheit und Gesundheit

54pdf der Druckfassung aus Sezession 54 / Juni 2013

I.

»Mishima war doch krank«, hörte ich einmal abwinkend einen Konservativen des eher erdwüchsigen, bodenständigen Schlages sagen. Seit ich sechzehn Jahre alt bin, faszinieren mich die Gestalt Yukio Mishimas und seine symbolische Revolte gegen die Moderne.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Ver­mit­telt wur­de die­se Fas­zi­na­ti­on vor allem durch den Film von Paul Schr­a­der, Mishi­ma – A Life in Four Chap­ters (USA 1985). Die eksta­tisch explo­die­ren­de Musik von Phil­ip Glass ließ kei­nen Zwei­fel dar­an, daß das thea­tra­li­sche Ende des gefei­er­ten Schrift­stel­lers durch öffent­li­chen ritu­el­len Selbst­mord (Seppu­ku) als fina­ler Tri­umph zu ver­ste­hen war.

Nun also: kon­ser­va­ti­ve Kri­tik an die­ser Iko­ne – aber nach kur­zem Durch­si­ckern wur­de mir zu mei­ner eige­nen Ver­blüf­fung klar, daß ich in zwan­zig Jah­ren kein ein­zi­ges Mal den Gedan­ken gefaßt hat­te, Mishi­ma könn­te »krank« gewe­sen sein. Dabei war die­se Tat­sa­che mehr als evi­dent. Mishi­ma war ein homo­se­xu­el­ler Nar­ziß, der sei­ne Kind­heit in sozia­ler Iso­la­ti­on ver­bracht hat­te, die kör­per­li­che Schwä­che und Kränk­lich­keit sei­ner Jugend durch eine müh­sam erar­bei­te­te heroi­sche Phy­sis kom­pen­sier­te, ein zwang­haf­ter Selbst­dar­stel­ler, der zeit­le­bens in sado­ma­so­chis­ti­schen Todes­phan­ta­sien schwelg­te. Man mag, je nach Blick­win­kel, dar­in die Fas­sa­de oder den Schlüs­sel sei­nes Lebens sehen. »Mishi­ma ist kein Vor­bild«, sag­te bei ande­rer Gele­gen­heit ein jun­ger Künst­ler zu mir. Ich zuck­te die Schul­tern. Auf die Idee, er kön­ne ein »Vor­bild« sein, war ich eben­falls noch nie gekom­men. Alles, was mir ein­fiel, war, daß Mishi­ma eben nicht Mishi­ma gewe­sen wäre, hät­te er sein Leben inmit­ten eines beschau­li­chen bür­ger­li­chen Daseins beendet.

 

II.

1978 erschien eine Pole­mik der an Krebs erkrank­ten Kul­tur­kri­ti­ke­rin Sus­an Son­tag, die sich vehe­ment gegen die Vor­stel­lung wand­te, »Krank­heit« kön­ne als »Meta­pher« ver­stan­den wer­den. Sie ant­wor­te­te damit auf den damals gän­gi­gen Mythos von der »Krebs­per­sön­lich­keit«, der vor allem auf den exzen­tri­schen Psy­cho­ana­ly­ti­ker Wil­helm Reich zurück­geht. Ein Rezen­sent von Son­tags Buch skiz­zier­te die­sen hypo­the­ti­schen Typus so: »Ein Mensch, der emo­tio­nal trä­ge ist, ein Ver­lie­rer, lang­sam, bür­ger­lich, der sei­ne natür­li­chen Gefüh­le unter­drückt hat, beson­ders sei­nen Zorn.«

Dies ent­sprach ziem­lich genau dem Bild, das im deut­schen Sprach­raum durch den pos­tum ver­öf­fent­lich­ten Roman Mars des Züri­cher Leh­rers Fritz Zorn (eigent­lich, fast schon omen­haft: Feder­i­co Angst) wei­te Ver­brei­tung fand. Der drei­ßig­jäh­ri­ge, unheil­bar krebs­lei­den­de Autor beschreibt dar­in sein Leben im bür­ger­lich-wohl­ha­ben­den Milieu als Schu­le des Kon­for­mis­mus und der emo­tio­na­len Ver­glet­scherung, die ihn, den äußer­lich erfolg­rei­chen und per­fekt ange­paß­ten, in eine Höl­le der Depres­si­on gestürzt und letzt­lich den Krebs als psy­cho­so­ma­ti­sches Sym­ptom erzeugt hat­te. Buch­ti­tel und Autoren­pseud­onym signa­li­sier­ten eine Kriegs­er­klä­rung, die sich nicht nur gegen sein fal­sches Selbst und die eige­ne Fami­lie, eine »der aller­bes­ten des rech­ten Zürich­see­ufers, das man auch die Gold­küs­te nennt«, son­dern gegen das gesam­te Schwei­zer Bür­ger­tum über­haupt rich­te­te. Zorn sah in sei­ner Krank­heit ein exak­tes Spie­gel­bild sei­ner von toten See­len bevöl­ker­ten Umwelt. Ihr Aus­bruch läu­te­te einen Pro­zeß des Erwa­chens ein, der sich in Haß­ti­ra­den und Ankla­gen ent­lud. Wer kann sagen, ob es für ihn auch ande­re Ven­ti­le gege­ben hätte?

Armin Moh­ler schil­dert in sei­nem Essay »Was ist los mit der Schweiz?« (1981) sein Hei­mat­land zwar in weni­ger grel­len Far­ben als sein Lands­mann – die Essenz der Kri­tik ist aber die­sel­be: »Wenn ich geblie­ben wäre, hät­te ich mich als Schau­fens­ter­zer­trüm­me­rer auf­ge­rie­ben«, schreibt Moh­ler. Dem sti­cki­gen bür­ger­li­chen Kon­sens der Schweiz – der bei Moh­ler Sym­pto­me von »monu­men­ta­ler Unter­ernäh­rung« erzeug­te – kön­ne man sich mit einem bestimm­ten Tem­pe­ra­ment nicht unter­ord­nen, ohne erheb­li­che »see­li­sche Schä­den« zu ris­kie­ren. Der Mars des Fritz Zorn wand­te sich nach innen, der­je­ni­ge Moh­lers nach außen: um sich zu kurie­ren, ver­such­te er sich – erfolg­los – in ein Kriegs­aben­teu­er als Frei­wil­li­ger der Waf­fen-SS zu stürzen.

Mars wur­de zum Kult­buch einer Gene­ra­ti­on, die gie­rig nach Erklä­run­gen und Heil­mit­teln für ihre Gefüh­le der Ent­frem­dung, der Sinn­lo­sig­keit und der feh­len­den Authen­tiz­tät such­te. In die­sen Zusam­men­hang gehör­ten auch die ins Gesell­schafts­po­li­ti­sche gewen­de­ten Theo­rien der »Anti-Psych­ia­trie«. Psych­ia­ter wie Ronald D. Laing und Tho­mas Szasz setz­ten sich dafür ein, psy­chi­sche Krank­hei­ten vom bio­lo­gi­schen wie auch psy­cho­ana­ly­ti­schen Ver­ständ­nis zu lösen, um sie vor allem unter den Gesichts­punk­ten der sozia­len Inter­ak­ti­on und der Exis­tenz­phi­lo­so­phie zu ver­ste­hen. Die­se Kon­zep­te gin­gen so weit, die Exis­tenz von »Geis­tes­krank­hei­ten« im her­kömm­lich ver­stan­de­nen Sin­ne zu bestreiten.

Als nun Sus­an Son­tag for­der­te, Krank­heit dür­fe nur als zufäl­li­ges bio­lo­gi­sches Mal­heur und nichts ande­res ver­stan­den wer­den, hat­te sie als eine der füh­ren­den Links­in­tel­lek­tu­el­len ihrer Zeit viel­leicht auch mit einer nar­ziß­ti­schen Krän­kung zu kämp­fen: Denn nun hat­te sie die angeb­li­che Krank­heit der ver­klemm­ten Bour­geois bekom­men. In den spä­ten acht­zi­ger Jah­ren dehn­te Sonn­tag ihre Kri­tik auf die Wahr­neh­mung von AIDS als Zeit­si­gna­tur aus. Ins­be­son­de­re wand­te sie sich gegen die mora­li­sche Auf­fas­sung der Infek­ti­ons­seu­che, die in ihr eine Fol­ge von pro­mis­kem (zumeist homo­se­xu­el­lem) Sex und exzes­si­vem Dro­gen­miß­brauch sah, wenn nicht gar ein selbst­ver­schul­de­tes Straf­ge­richt. Der Kran­ke wäre nach Son­tag also stets als Opfer zu betrach­ten, das zu Unrecht zum Täter erklärt wird, indem ihm mytho­lo­gi­sie­ren­de Inter­pre­ta­tio­nen auf­ge­nö­tigt wer­den, die Schuld- und Scham­ge­füh­le her­vor­ru­fen sol­len. Dabei ver­kann­te sie nicht nur, daß Pro­mis­kui­tät und Dro­gen­sucht aller lin­ken Moral­um­wer­tun­gen zum Trotz kaum in den Zustand der »Unschuld« erho­ben wer­den können.

»Daß der Kran­ke ein Ver­un­rei­nig­ter ist«, schrieb Hans Blü­her in sei­nem Trak­tat über die Heil­kun­de (1926), »die­ses siche­re Gefühl« sei »psy­cho­lo­gisch nicht aus der Welt zu schaf­fen«, eben­so­we­nig wie das eigen­tüm­li­che Schuld­ge­fühl gera­de des see­lisch Kran­ken, des Neu­ro­ti­kers. Jede Krank­heit hat ein meta­phy­si­sches Echo im Erkrank­ten, das mal schwä­cher, mal stär­ker klingt; und jede Krank­heit führt in die Zone der »letz­ten Din­ge«. Die For­mel Blü­hers für die Hei­lung: Sie ist beim Men­schen nicht ein­fach nur Wie­der­her­stel­lung des Orga­nis­mus wie beim Tier – sie bedeu­tet vor allem die Wie­der­her­stel­lung der Per­son. Und die­se Wie­der­her­stel­lung ist auch immer »das eigent­li­che The­ma des Gebe­tes.« Er war davon über­zeugt, daß die Natur ihre eige­nen Heils- und Behar­rungs­kräf­te in sich ber­ge, andern­falls trü­ge sie einen rein sata­ni­schen Cha­rak­ter. In der Spra­che der Theo­lo­gen: Die Gna­de setzt die Natur voraus.

 

III.

Kön­nen Fami­li­en, Völ­ker, Kul­tu­ren, Kol­lek­ti­ve, Ras­sen eben­so »erkran­ken« wie der ein­zel­ne Mensch? »Gibt« es wirk­lich so etwas wie einen »Fami­li­en-« und »Volks­kör­per«, der einen phy­sisch-bio­lo­gi­schen und meta­phy­si­schen Zusam­men­hang hat? Ent­steht und ver­geht eine Kul­tur wie ein Orga­nis­mus, ist sie gar ein Orga­nis­mus? Ster­ben Kul­tu­ren an Alters­schwä­che wie Men­schen, Pflan­zen und Tie­re, sind ihre Deka­denz­er­schei­nun­gen nur die Abbruch­bir­nen und Maden, die über einen hin­fäl­li­gen Orga­nis­mus her­fal­len, des­sen Zeit abge­lau­fen ist? Die Fra­ge, ob in Meta­phern gespro­chen wird oder nicht, spitzt sich hier dring­lich zu: denn von ihrer Beant­wor­tung hängt es ab, ob wir an die­ser Stel­le Heil und Hei­lung erhof­fen dür­fen oder nicht (womit nicht not­wen­di­ger­wei­se unser bio­lo­gi­sches Über­le­ben gemeint ist).

Frank Lis­son zeich­net in sei­nem Buch Die Ver­ach­tung des Eige­nen (2012) eine gera­de­zu epi­sche Fie­ber­kur­ve der »abend­län­di­schen Geschich­te«, die nach all­ge­mei­nem Kon­sens der meis­ten Betrach­ter an ihrem Ende oder zumin­dest in einer bei­spiel­los kri­ti­schen Pha­se ange­kom­men ist. Vie­le Leser, die bei Lis­son Ein­blick in »Ursa­chen und Ver­lauf des kul­tu­rel­len Selbst­has­ses« in Euro­pa such­ten, wand­ten sich mit ban­gen Fra­gen an den Autor: Ist die­se eine Krank­heit zum Tode? Gibt es eine Medi­zin dage­gen? Fra­gen, die von die­sem ver­wor­fen wur­den – wir sei­en »gezwun­gen, uns mit der Dia­gno­se zu begnü­gen«: »Das Gefühl der Ohn­macht ver­liert dann an Macht, wenn man meint, die Ursa­chen der Ohn­macht zu ken­nen. Des­halb gehört die Dia­gno­se inzwi­schen sel­ber zum Sym­ptom: die Intel­lek­tu­el­len, die begabt und mutig genug sind, das Übel zu erschau­en und beim Namen zu nen­nen, ver­hal­ten sich wie Ärz­te, die ein Krank­heits­bild beschrei­ben. Sie sagen etwa: so steht es um uns; wir sind ›von Feig­heit para­ly­siert‹. Sie sagen es, wie Pries­ter sagen: wir sind voll Sün­de. Und bei­de wis­sen, nie­mand kann die­ser ›Wahr­heit‹ ent­flie­hen; will es viel­leicht auch gar nicht, denn nie­mand fühlt sich direkt ange­spro­chen.« Die Intel­lek­tu­el­len ver­hal­ten sich »wie« Ärz­te und Pries­ter, sind also weder das eine noch das ande­re. Eben­so blei­ben »Krank­heit« und »Sün­de«, »Dia­gno­se« nur Meta­phern. Aber wofür? Die Ana­ly­sen der Intel­lek­tu­el­len füh­ren unterm Strich nur noch tie­fer in das Rät­sel und nicht wei­ter als der Dia­log aus Robert Bres­sons Film Le dia­ble pro­ba­blem­ent (Frank­reich 1977): »Es ist wahr, daß uns irgend etwas gegen unse­ren Wil­len treibt … Wer ist es, der sich über die Mensch­heit lus­tig macht? Wer ist es, der uns an der Nase her­um­führt?« – »Der Teu­fel, möglicherweise!«

Neh­men wir jedoch Krank­heit und Sün­de im ver­bind­li­chen Sin­ne, so müs­sen wir anneh­men, daß die »Wahr­heit« so lan­ge in den Gän­se­füß­chen des Sub­jek­ti­vis­ti­schen ste­cken­blei­ben wird, solan­ge sich der ein­zel­ne nicht »direkt anspre­chen« läßt. Das ist ganz buch­stäb­lich zu ver­ste­hen. Der Mensch, der dem Arzt gegen­über­tritt, so Blü­her, erbit­te nicht eigent­lich die Befrei­ung von die­sem oder jenem belie­bi­gen Übel, beson­ders, wenn es sich um see­li­sches Lei­den han­delt. »Er meint: befrei­en Sie mich. Das sieht jeder Kran­ke in der drit­ten Stun­de ein, nach­dem er den Jar­gon der gewöhn­li­chen Medi­zin abge­wor­fen hat. Er weiß, daß die schick­sals­ge­la­de­ne Ver­bin­dung zwi­schen sei­nem lie­ben Ich und dem Selbst der Ursprung aller sei­ner Lei­den ist; es ist dann gleich­gül­tig, wor­an er leidet.«

IV.

Auch Sus­an Son­tag hat­te sich häu­fig des meta­pho­ri­schen Gebrauchs von »Krank­heit« schul­dig gemacht, am berüch­tigs­ten wohl in ihrem Satz, die »wei­ße Ras­se« sei das »Krebs­ge­schwür der Mensch­heits­ge­schich­te«. In der Tat scheint die Ana­lo­gie des mensch­li­chen Kör­pers mit Kör­per­schaf­ten der mensch­li­chen Gesell­schaft (wie etwa Staat, Volk, Nati­on) eben­so unwi­der­steh­lich wie sinn­fäl­lig zu sein – was auch einer der Grün­de sein mag, war­um sich Son­tag so vehe­ment dage­gen gewehrt hat.

Das Bewußt­sein der abend­län­di­schen Kri­se hat in den Jahr­zehn­ten nach 1945 im Gefol­ge von Atom­auf­rüs­tung und Umwelt­zer­stö­rung eine pla­ne­ta­ri­sche Dimen­si­on erlangt. Im 20. Jahr­hun­dert hat­te die Macht des Men­schen über die Natur in einem sol­chen Maße zuge­nom­men, daß man begann, um ihr Fort­be­stehen zu ban­gen. Die »Lun­gen« der Erde wer­den bis heu­te durch Regen­wald­ro­dung und Luft­ver­pes­tung beschä­digt, ihre Mee­re, Seen und Flüs­se durch Öl, Abfäl­le und Che­mi­ka­li­en ver­schmutzt und dau­er­haft ver­gif­tet, wäh­rend die Arten­viel­falt der Fau­na und Flo­ra rapi­de abnimmt. Gleich­zei­tig brei­tet sich die mensch­li­che Popu­la­ti­on explo­si­ons­ar­tig über den Pla­ne­ten aus, so daß man­che Zyni­ker schon soweit sind, in der miß­ra­te­nen Spe­zi­es ins­ge­samt ein wuchern­des Kar­zi­nom zu sehen. Eine Krebs­zel­le scheint von einem blin­den, »ego­is­ti­schen« Wil­len getrie­ben zu sein. Sie brei­tet sich so lan­ge unge­ach­tet ihrer Rol­le in der Ganz­heit des Orga­nis­mus aus (»eman­zi­piert« sich sozu­sa­gen), bis sie ihren Wirt ver­nich­tet und damit ihre eige­ne bio­lo­gi­sche Grund­la­ge unter­gra­ben hat. Mit prä­zi­ser Ana­lo­gie kann man auch den Men­schen der Heid­eg­ger­schen »Seins­ver­ges­sen­heit«, der zur Natur nur mehr in einem blin­den Nut­zungs­ver­hält­nis steht, als Krebs­zel­le betrach­ten: er sägt sich den berühm­ten Ast ab, auf dem er sitzt.

Die­ses Bild läßt sich ohne wei­te­res mit der Kri­tik am Libe­ra­lis­mus kurz­schlie­ßen, der das Indi­vi­du­um aus dem Gan­zen her­aus­löst und es zur »Selbst­ver­wirk­li­chung« ermun­tert, als wäre es eine Krebs­zel­le. Hier ist auch der Ort, an dem das berühm­te Böcken­för­de-Dik­tum ansetzt: »Der frei­heit­li­che, säku­la­re Staat lebt von Vor­aus­set­zun­gen, die er selbst nicht garan­tie­ren kann.«

Ähn­li­che Ana­lo­gien kann man fin­den, wenn man die Aus­brei­tung des AIDS-Virus als Meta­pher für gewis­se Dis­po­si­tio­nen der west­li­chen Welt betrach­tet (unge­ach­tet der Tat­sa­che, daß die meis­ten AIDS-Kran­ken in Afri­ka leben). Dies gilt vor allem für sei­nen Cha­rak­ter als Aus­lö­ser von Immun­schwä­che. So spricht Guil­laume Faye vom »geis­ti­gen AIDS«, das die libe­ra­len Gesell­schaf­ten des Wes­tens befal­len habe. Im Zustand der Deka­denz sei­en sie nicht mehr imstan­de, sich gegen destruk­ti­ve Ein­flüs­se zu weh­ren, was sich auch im zwei­schnei­di­gen Kult der »Tole­ranz« äuße­re. Wie ein Kör­per, des­sen Immun­sys­tem nicht mehr fähig ist, schäd­li­che Viren als »Fein­de« zu erken­nen und abzu­weh­ren, so wird in den west­li­chen Gesell­schaf­ten all das »tole­riert« und als »Berei­che­rung« begrüßt, was das Eige­ne ver­än­dert, ver­drängt, kor­rum­piert und am Ende zer­stört, wäh­rend sich die letz­ten noch vor­han­de­nen Abwehr­af­fek­te auf jeg­li­chen Ver­such einer Stär­kung des eige­nen Immun­sys­tems richten.

Gegen einen sol­chen Gebrauch der Krank­heits­me­ta­pher schrieb Son­tag: »Die Ver­wen­dung des Krebs­be­griffs im poli­ti­schen Dis­kurs för­dert den Fata­lis­mus und recht­fer­tigt ›stren­ge‹ Maß­nah­men – und bekräf­tigt zugleich die weit­ver­brei­te­te Auf­fas­sung, daß die Krank­heit not­wen­di­ger­wei­se töd­lich ist.« Hier erkann­te sie zu Recht, daß eine sol­che Auf­fas­sung in Para­noia und den Fana­tis­mus der Säu­be­rung umschla­gen kön­ne. Bald ist der poli­ti­sche Geg­ner so weit ent­hu­ma­ni­siert, daß er nur mehr als Infek­ti­ons­herd und Bazil­len­trä­ger wahr­ge­nom­men wird, wäh­rend man gar nicht mehr sieht, wie vie­le Viren man sel­ber mit sich trägt (ein typi­sches zeit­ge­nös­si­sches Bei­spiel sind gewis­se libe­ra­le »Islam­kri­ti­ker«, die auf Scyl­la rei­ten, wäh­rend sie wider Cha­ryb­dis wüten). Dann ist es nicht mehr weit bis zur Kaker­la­ken­spra­che der tota­li­tä­ren Bewe­gun­gen. Wir ken­nen ihre Ver­su­che, »kran­ke« und »deka­den­te« Gesell­schaf­ten mit­tels einer Roß­kur zu heilen.

Am deut­lichs­ten zeigt sich dies am Natio­nal­so­zia­lis­mus, in dem sich die Über­em­pha­se bio­lo­gi­scher Gesund­heit auf­fäl­lig mit einer erhöh­ten Infek­ti­ons­angst ver­band. Auch hier gilt: wer etwas stän­dig betont, tut das nicht, weil er es hat, son­dern weil er es nötig hat. Man kann, ana­log zur Idee der »Gleich­heit«, auch in die Idee des »Gesun­den« als mythisch-ideo­lo­gi­sches Kon­strukt flüch­ten. Man muß Harald Harz­heim wohl recht geben: »Wo immer jemand im poli­tisch-gesell­schaft­li­chen Kon­text von ›Gesund­heit‹ redet, da ist tota­ler Wahn­sinn zu erwar­ten.« Heu­te erscheint der Natio­nal­so­zia­lis­mus iro­ni­scher­wei­se als Aus­ge­burt des Kran­ken und Psy­cho­pa­tho­lo­gi­schen schlecht­hin, und die­ses Bild hat auch dann eini­ge Wahr­heit auf sei­ner Sei­te, wenn man die dicke Schicht zeit­ge­nös­si­scher Dämo­no­lo­gie außer acht läßt.

V.

Gott­fried Benn rech­ne­te 1930 in einer Buch­re­zen­si­on mit dem moder­nen Mythos der »Gesund­heit« und sei­nen »bio­lo­gi­schen Züch­tungs­wer­ten« ab. Er behan­delt dar­in die »Genie­fra­ge«, eines der »lei­den­schaft­lichst umkämpf­ten The­men der Mensch­heit über­haupt, aktu­ell seit zwei Jahr­tau­sen­den, seit Sokra­tes mein­te, der Wahn­sinn sei kein Übel schlecht­hin, son­dern durch ihn sei­en die größ­ten Güter über Hel­las gekom­men, seit Pla­to lehr­te, das Lied des nichts als Ver­nünf­ti­gen ver­klin­ge neben dem Ver­zück­ten.« Nach einer genüß­li­chen Auf­zäh­lung der kör­per­li­chen und psy­chi­schen Gebre­chen der Genies der Welt­ge­schich­te, deren »inne­re Aus­gangs­sta­tio­nen … Krank­heit, Selbst­mord, frü­her Tod, Rausch­sucht, Kri­mi­nel­les, Abnor­mi­tät und ganz beson­ders deut­lich und mas­siv: die Psy­cho­se« sei­en, kommt Benn zu dem Schluß: »Genie ist Ent­ar­tung« – wobei er aller­dings hin­zu­fügt, daß zum ech­ten Genie als Aus­gleich auch immer ein »kräf­ti­ges Stück Gesund­heit und Spieß­bür­ger­tum« dazu­ge­hö­re. An die­sen »immo­bi­len bür­ger­li­chen Schich­ten« bre­che sich das »Dämo­ni­sche« dafür ganz »beson­ders wirkungsvoll.«

Sehr ähn­lich for­mu­liert es Egon Frie­dell in sei­ner Kul­tur­ge­schich­te der Neu­zeit, in der er das Genie eben­falls in einem Span­nungs­feld zwi­schen Lebens­schwä­che und Lebens­tüch­tig­keit ansie­delt. Sein »Exkurs über den Wert der Krank­heit« führt jedoch weit über die spe­zi­el­le Genie­fra­ge hin­aus: Er sah in der Krank­heit eine der wich­tigs­ten Trieb­fe­dern des Geis­ti­gen und Schöp­fe­ri­schen über­haupt. Man kann über »Krank­heit und Gesund­heit« also nicht spre­chen, ohne den »schma­len Grat« zu beschrei­ten, den Erik Leh­nert in Sezes­si­on 53/2013 benann­te. Es ist offen­sicht­lich eben­so falsch, das (alt­ber­li­ne­risch gesagt) »Doof-Nor­ma­le« wie das »Abnor­ma­le« an sich als das »Ech­te, Eigent­li­che, Magne­ti­sche« zu ver­ab­so­lu­tie­ren oder gar zu ver­klä­ren. Aber falsch ist es auch, die ewi­ge Fra­ge nach dem »wah­ren Leben«, dem »Authen­ti­schen«, dem »Selbst« oder dem »eigent­li­chen Men­schen« (oder wie immer man es nen­nen mag) mit der Behaup­tung ein­zu­schach­teln, das alles gäbe es nicht. Ein Unter­fan­gen, das ohne­hin zum Schei­tern ver­ur­teilt ist: die Erfah­rung von Krank­heit, Sün­de und Ent­frem­dung bleibt der Sta­chel, der das Ver­lan­gen nach Hei­lung, Erlö­sung und Unmit­tel­bar­keit »von Ange­sicht zu Ange­sicht« nicht zur Ruhe kom­men läßt.

 

VI.

»Reak­tio­när sein heißt nicht, toten Ver­gan­gen­hei­ten zu ver­fal­len, son­dern sich aus einer töd­li­chen Krank­heit zu rei­ßen.« Dávila spricht hier von einer ent­schie­de­nen Wen­dung wider sich selbst, nicht gegen eine kran­ke Gesell­schaft. Wer gegen die »Deka­denz« im Außen kämp­fen will, muß zuerst jene im Inne­ren erken­nen und bekämp­fen. Man mag ihre Agen­ten in der eige­nen See­le mit den christ­li­chen Tod­sün­den benen­nen, man mag für sie auch moder­ne Begrif­fe oder Bil­der fin­den – das ist im Grun­de gleich­gül­tig. An einer ande­ren Stel­le schreibt Dávila, nur schein­bar wider­sprüch­lich: »Eine kran­ke See­le zu hei­len, bedeu­tet fast immer, sie ihrer ein­zi­gen Spi­ri­tua­li­tät zu berau­ben.« Es gibt kei­ne Gna­de ohne die Sün­de, kein Leben ohne den Tod, kei­ne Gesund­heit ohne die Krank­heit, kei­ne Spi­ri­tua­li­tät ohne den Kon­flikt, der nie­mals ein Ende nimmt.

In die­sen Bereich gehört auch das berühm­te Bild von Ernst Jün­ger, der im Aben­teu­er­li­chen Her­zen (1929), die »See­len von Gran­dez­za« beschwört, »die an Tem­pe­ra­tur­er­hö­hung lei­den, weil in ihnen der grü­ne Eiter des Ekels frißt«, die zwi­schen den Füt­ter­trö­gen der Zivi­li­sa­ti­on schlei­chen »gleich Fie­ber­kran­ken«, jene also, die des­we­gen erkran­ken, weil sie nicht imstan­de sind, sich forsch­fröh­lich ein- und unter­zu­ord­nen, die Schnau­ze in den Trog zu ste­cken und als Schwein­chen unter Schwein­chen zu dinie­ren – wel­che sich gewiß für »gesund« und »nor­mal« hal­ten, und dabei Qua­ran­tä­nen für alle vor­be­rei­tet haben, die nicht mit­grun­zen wol­len. Es ist kein Anzei­chen von Gesund­heit, sich einer zutiefst kran­ken Gesell­schaft anzu­pas­sen. Und wer, des­sen Augen offen sind, will zwei­feln, daß wir in einer »Zivi­li­sa­ti­on des Todes« leben? Ein Zurück in die bür­ger­li­che »Gesund­heit« oder die Unschuld der Unkennt­nis der Lage kann es für sol­che See­len nicht geben, nur ein Vor­wärts zu ihrer eige­nen Form von Gesund­heit, wo sich zei­gen kann, wie­viel »Gran­dez­za« tat­säch­lich in ihnen steckt. Auf die­sem Weg, der wie jeder Hei­lungs­pro­zeß ent­lang krum­mer Pfa­de ver­läuft, wird geho­belt, und wo geho­belt wird, da müs­sen Spä­ne fliegen.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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