40. Todestag Leo Strauss

(Text aus dem Band Vordenker des Staatspolitischen Handbuchs, Schnellroda 2012.)

von Till Kinzel

Der politische Philosoph Leo Strauss gehört zu den bedeutendsten Denkern des 20. Jahrhunderts, die eine grundsätzliche Modernitätskritik in philosophischer und politischer Hinsicht übten.

Nach zio­nis­tisch gepräg­ten Anfän­gen poli­ti­schen Inter­es­ses und inten­si­ver Nietz­sche-Lek­tü­re brach­te Strauss deut­li­che Sym­pa­thien für eine rech­te Opti­on zum Aus­druck, in der er noch Anfang der drei­ßi­ger Jah­re sei­ne »doxa«, also poli­ti­sche Mei­nung, erblick­te. Im Zuge inten­si­ver Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit Spi­no­zas Bibel­wis­sen­schaft und Reli­gi­ons­kri­tik, mit Carl Schmitts Begriff des Poli­ti­schen, der poli­ti­schen Phi­lo­so­phie von Hob­bes sowie auch Moses Men­dels­sohn und dem mit­tel­al­ter­li­chen Den­ken gelang­te Strauss zu sei­ner eige­nen Form von poli­ti­scher Phi­lo­so­phie. Die­se nahm ihren Aus­gangs­punkt von dem Sokra­ti­schen Ver­ständ­nis des Phi­lo­so­phie­rens in einer poli­tisch gepräg­ten Welt, die ihren popu­lärs­ten Aus­druck in dem schein­bar bloß phi­lo­so­phie­ge­schicht­li­chen Werk Natur­recht und Geschich­te (1956) fand.

Das »Pro­blem des Sokra­tes« (Nietz­sche) soll­te Strauss bis zu sei­nen letz­ten Wer­ken beschäf­ti­gen, die sich den sokra­ti­schen Schrif­ten Xeno­phons und Pla­tons Geset­zen wid­me­ten. In Wer­ken wie The City and Man (1964) ana­ly­sier­te Strauss die dem poli­ti­schen Leben inne­woh­nen­den Span­nun­gen; in sei­ner Schrift Über Tyran­nis (1963), die zu einem Dia­log mit Alex­and­re Kojè­ve und Eric Voe­gel­in führ­te, warf Strauss die Fra­ge nach dem Wesen der anti­ken wie der moder­nen Tyran­nis auf und klär­te das Ver­hält­nis des Phi­lo­so­phen zur poli­ti­schen Ord­nung, in deren Rah­men er sein Leben füh­ren müs­se. Strauss ent­wi­ckel­te sich zu einem freund­schaft­li­chen Kri­ti­ker der frei­heit­li­chen Demo­kra­tie, der die­se aus Inter­es­se an der Erhal­tung der Frei­heit auf inne­re Schwä­chen hinwies.

Obwohl Strauss die moder­ne Phi­lo­so­phie zum Aus­gangs­punkt sei­ner Unter­su­chun­gen mach­te, führ­te ihn gera­de die Ein­sicht in die pro­ble­ma­ti­schen Aspek­te die­ser Phi­lo­so­phie zu einer Wie­der­auf­nah­me des Streits zwi­schen Alten und Moder­nen. Denn Strauss woll­te in der denk­bar radi­kals­ten Wei­se über­prü­fen, ob die moder­ne Phi­lo­so­phie tat­säch­lich alter­na­tiv­los war und ob es eine Mög­lich­keit geben könn­te, hin­ter das moder­ne Den­ken und des­sen poli­ti­sches Kor­re­lat, den Libe­ra­lis­mus, zurück­zu­ge­hen. Dazu war es nötig, die Argu­men­te der klas­si­schen Phi­lo­so­phen wie Pla­ton, Xeno­phon, Aris­to­te­les und Cice­ro neu zu prü­fen in bezug auf die alles ent­schei­den­de Wahr­heits­fra­ge. Um dies über­haupt als Opti­on plau­si­bel zu machen, muß­te Strauss ein Vor­ur­teil für die Auf­fas­sung erwe­cken, daß z. B. Pla­ton und Aris­to­te­les nicht grund­le­gend und ein für alle­mal von den moder­nen Phi­lo­so­phen wider­legt wor­den waren. Strauss griff zu die­sem Zweck auf eine genea­lo­gi­sche Stu­die des his­to­ri­schen Den­kens zurück, um »hin­ter« das moder­ne Den­ken und damit über es hin­aus zu kommen.

Grund­le­gend für das gesam­te Werk von Leo Strauss ist die Zen­tra­li­tät des theo­lo­gisch-poli­ti­schen Dilem­mas, das in der Lite­ra­tur unter­schied­li­che Deu­tun­gen erfah­ren hat. In der letz­ten Instanz geht es auf die Fra­ge nach dem rich­ti­gen Leben zurück, das für den Men­schen ent­we­der im Gehor­sam gegen die Gebo­te Got­tes oder in der Beru­fung auf die natür­li­che Ver­nunft bestehen kann. Strauss ver­trat die Auf­fas­sung, daß die Vita­li­tät der abend­län­di­schen Kul­tur in der poli­tisch-prak­tisch unauf­lös­ba­ren Span­nung zwi­schen den Ansprü­chen der reli­giö­sen Offen­ba­rung und der phi­lo­so­phi­schen Ver­nunft bestand, die er mit den Abbre­via­tu­ren »Jeru­sa­lem« und »Athen« iden­ti­fi­zier­te. Die Poli­ti­sche Theo­lo­gie kann als Gegen­vi­si­on des mensch­li­chen Lebens zu Strauss’ poli­ti­scher Phi­lo­so­phie ver­stan­den wer­den – und wur­de auch von Strauss’ »Dia­log­part­ner« Carl Schmitt so ver­stan­den (so noch im Brief­wech­sel mit Jacob Tau­bes in den 1970er Jahren).

Den bedeu­tends­ten Bei­trag von Strauss zum theo­lo­gisch-poli­ti­schen Pro­blem stellt wohl sein bis­her noch nicht in deut­scher Über­set­zung vor­lie­gen­des Buch Thoughts on Machia­vel­li (1958) dar, das die Aus­ein­an­der­set­zung mit Machia­vel­li zu einer Dis­kus­si­on des Pro­blems der Moder­ne in phi­lo­so­phi­scher und poli­ti­scher Hin­sicht aus­wei­tet und das letz­te Ziel in der Wie­der­ge­win­nung der »per­ma­nent pro­blems « sieht, also der zeit­über­dau­ern­den Fra­gen, mit denen sich der Mensch aus­ein­an­der­set­zen muß. Die von Strauss ver­foch­te­ne Bil­dungs­kon­zep­ti­on ziel­te auf die Eta­blie­rung einer »Aris­to­kra­tie« inner­halb der Mas­sen­ge­sell­schaft, die gegen die moder­ne Ten­denz zum all­um­fas­sen­den Rela­ti­vis­mus und Nihi­lis­mus am Wert von geis­ti­gen und mora­li­schen Tugen­den fest­hal­ten soll­te. Strauss’ phi­lo­so­phi­sches Werk erschließt sich in sei­ner Tie­fen­di­men­si­on nur einer sorg­fäl­ti­gen Lek­tü­re, die den viel­fäl­ti­gen Fin­ger­zei­gen des Autors nach­geht. Strauss prak­ti­zier­te eine »Kunst des Schrei­bens«, die aus sei­nen Wer­ken mehr als blo­ße phi­lo­so­phie­ge­schicht­li­che Arse­na­le macht.

Strauss’ Essay Per­se­cu­ti­on and the Art of Wri­ting (1952) gehört zu den bis heu­te unaus­ge­schöpf­ten Grund­la­gen­tex­ten jeder Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Wesen der poli­ti­schen Phi­lo­so­phie. Strauss ent­wirft hier nicht nur eine Her­me­neu­tik phi­lo­so­phi­scher Tex­te unter Bedin­gun­gen der Ver­fol­gung, son­dern zielt grund­sätz­lich auf das Ver­hält­nis einer Frei­heit, die nicht Zügel­lo­sig­keit ist, zu einer Ord­nung, die nicht Tyran­nei ist.

Schrif­ten: Per­se­cu­ti­on and the Art of Wri­ting, New York 1952 (dt. Übers. des Titel­es­says in: Kunst des Schrei­bens, Ber­lin 2009); Natur­recht und Geschich­te, Stutt­gart 1956; Thoughts on Machia­vel­li, Glen­coe 1958; What Is Poli­ti­cal Phi­lo­so­phy? and Other Stu­dies, Glen­coe 1959; Über Tyran­nis, Neu­wied 1963; The City and Man, Chi­ca­go 1964; Hob­bes’ poli­ti­sche Wis­sen­schaft, Neu­wied 1965; Socra­tes and Aris­to­pha­nes, New York 1966; Libe­ra­lism Anci­ent and Modern, New York 1968; The Argu­ment and the Action of Plato’s Laws, Chi­ca­go 1975; The Rebirth of Clas­si­cal Poli­ti­cal Ratio­na­lism, hrsg. v. Tho­mas L. Pang­le, Chi­ca­go 1989; Gesam­mel­te Schrif­ten, bis­her 3 Bde., Stutt­gart 1996ff; On Plato’s Sym­po­si­um, Chi­ca­go 2001; Glau­be und Wis­sen. Der Brief­wech­sel zwi­schen Eric Voe­gel­in und Leo Strauss von 1934 bis 1964, Pader­born 2010.

Lite­ra­tur: Ken­neth L. Deutsch/John A. Mur­ley (Hrsg.): Leo Strauss, the Straus­si­ans and the Ame­ri­can Regime, Lan­ham 1999; Till Kin­zel: Pla­to­ni­sche Kul­tur­kri­tik in Ame­ri­ka. Stu­di­en zu Allan Blooms »The Clo­sing of the Ame­ri­can Mind«, Ber­lin 2002; Hein­rich Mei­er: Carl Schmitt, Leo Strauss und der Begriff des Poli­ti­schen. Zu einem Dia­log unter Abwe­sen­den, Stutt­gart 1998; ders.: Leo Strauss and the Theo­lo­gi­co-Poli­ti­cal Pro­blem, Cam­bridge 2006; Tho­mas L. Pang­le: Leo Strauss. An Intro­duc­tion to His Thought and Intellec­tu­al Lega­cy, Bal­ti­more 2006.

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