Marx neu lesen (3)

Unser Karlvon Adolph Przybyszewski

Die erste notwendige Bedingung der Freiheit sei Selbsterkenntnis, hatte der junge Karl Marx 1842 in seinen ätzenden Kommentaren zu den damals immerhin geführten "Debatten über die Preßfreiheit" angemerkt. Der Ansicht eines reaktionären Redners im rheinischen Landtag, die "Preßfreiheit" würde zur "Demoralisation" des Volks beitragen und "die Grundlage wahrer Zivilisation untergraben", hielt Marx engegen: "Demoralisierend wirkt die zensierte Presse":

Das poten­zier­te Las­ter, die Heu­che­lei, ist unzer­trenn­lich von ihr, und aus die­sem ihrem Grund­las­ter flie­ßen alle ihre ande­ren Gebre­chen, denen sogar die Anla­ge zur Tugend fehlt, ihre, selbst ästhe­tisch betrach­tet, ekel­haf­ten Las­ter der Pas­si­vi­tät. Die Regie­rung hört nur ihre eige­ne Stim­me, sie weiß, daß sie nur ihre eige­ne Stim­me hört und fixiert sich den­noch in der Täu­schung, die Volks­stim­me zu hören, und ver­langt eben­so vom Vol­ke, daß es sich die­se Täu­schung fixie­re. Das Volk sei­ner­seits ver­sinkt daher teils in poli­ti­schen Aber­glau­ben, teils in poli­ti­schen Unglau­ben oder, ganz vom Staats­le­ben abge­wen­det, wird es Pri­vat­pö­bel.

(MEW I, S. 63 f.)

Mit den Karls­ba­der Beschlüs­sen war 1819 für den gan­zen Deut­schen Bund eine ein­heit­li­che Zen­sur ein­ge­führt wor­den, die für weni­ger umfang­rei­che Druckerzeug­nis­se eine Vor­zen­sur, für dicke­re Schrif­ten eine Nach­zen­sur vor­sah. Das 1949 in West­deutsch­land pro­vi­so­risch instal­lier­te Grund­ge­setz dage­gen ver­kün­de­te in sei­nem fünf­ten Arti­kel: “Eine Zen­sur fin­det nicht statt.” Aller­dings gren­zen schon die in Deutsch­land geläu­fi­ge Indi­zie­rung bestimm­ter Schrif­ten und die “frei­wil­li­ge Selbst­kon­trol­le” durch­aus an Nach­zen­sur und beflis­se­ne Vorzensur.

Mar­xens Über­le­gun­gen zur geis­ti­gen Frei­heit der Pres­se im Ange­sicht der preu­ßi­schen Zen­sur­be­hör­de sind für BRD-Bür­ger aber nicht des­we­gen immer noch lesens­wert. Die Lage hat sich hier grund­le­gend geän­dert, weil sich die sicht­ba­re Sche­re des Zen­sors im ‘frei­es­ten Staat auf deut­schem Boden und in der deut­schen Geschich­te’ längst zur unsicht­ba­ren Sche­re im Kopf ver­wan­delt hat. In der BRD braucht bekannt­lich kein Ber­li­ner Zen­sur­min­s­te­ri­um zuzu­schla­gen, denn das Gros der Jour­na­lis­ten und Redak­teu­re von Gewer­be befolgt und repro­du­ziert meist unge­schrie­be­ne Zen­sur­re­geln ohne nen­nens­wer­ten Wider­stand, und wenn ihre Schwän­ze groß genug wären, wür­den sie damit auch freund­lich wedeln. Beson­ders in Chemnitz.

Die alten Kader der DDR-Obrig­keit, von deren Medi­en­ver­laut­ba­run­gen man in der DDR auf­grund breit vor­han­de­ner kri­ti­scher Intel­li­genz im Volk und bei den Intel­lek­tu­el­len wuß­te, daß sie logen, sind längst im Wes­ten ange­kom­men, aber auch vie­les von jener vor­mals vor­han­de­nen kri­ti­schen Intel­li­genz. In der BRD herrscht auf der Basis des erwähn­ten fünf­ten Arti­kels schein­bar Preß­frei­heit, und man glaubt sich daher eben­so der Gedan­ken­frei­heit sicher. Tat­säch­lich aber ist die­se Frei­heit hier bedroh­ter denn je – weil die Intel­lek­to­iden in Pres­se, Funk und Fern­seh wohl mei­nen, freie Rede zu schwin­gen und inves­ti­ga­tiv manch küh­ne Tat zu voll­brin­gen, in Wahr­heit aber ihr Gehe­ge nie verlassen.

Der tie­fe­re Grund, der frei­lich dia­lek­tisch selbst als Pro­dukt und Pro­du­zent die­ser Lage zu sehen ist, liegt dar­in, daß in der BRD nach 1989 der deut­sche Unter­tan des Hein­rich Mann – end­gül­tig? – zur Herr­schaft über sei­nes­glei­chen gelangt ist und die obrig­keit­lich ver­ord­ne­te Gehor­sams­pflicht inzwi­schen so obses­siv ver­in­ner­licht hat, daß eine Befrei­ung heu­te kaum mehr denk­bar scheint: Denn fühlt sich unser Diede­rich Heß­ling nicht wohl in sei­ner zwei­ten Haut, der uni­for­mier­ten Mei­nung? Das aber ist ange­sichts der kri­sen­haf­ten Lage ver­derb­lich, wie wir von Marx ler­nen kön­nen, denn die

Ver­wal­tung und die Ver­wal­te­ten bedür­fen zur Lösung der Schwie­rig­keit […] eines drit­ten Ele­ments, wel­ches poli­tisch ist, ohne amt­lich zu sein, also nicht von büro­kra­ti­schen Vor­aus­set­zun­gen aus­geht, wel­ches eben­so bür­ger­lich ist, ohne unmit­tel­bar in die Pri­vat­in­ter­es­sen und ihre Not­durft ver­wi­ckelt zu sein. Die­ses ergän­zen­de Ele­ment von staats­bür­ger­li­chem Kopf und von bür­ger­li­chem Her­zen ist die freie Pres­se. Im Bereich der Pres­se kön­nen die Ver­wal­tung und die Ver­wal­te­ten gleich­mä­ßig ihre Grund­sät­ze und For­de­run­gen kri­ti­sie­ren, aber nicht mehr inner­halb eines Sub­or­di­na­ti­ons­ver­hält­nis­ses, son­dern in glei­cher staats­bür­ger­li­cher Gel­tung, nicht mehr als Per­so­nen, son­dern als intel­lek­tu­el­le Mäch­te, als Verstandesgründe.

(Recht­fer­ti­gung des ††-Kor­re­spon­den­te von der Mosel, MEW I, 189 f.)

Gesetzt den Fall, es gäbe etwa in den Chem­nit­zer Nischeln “intel­lek­tu­el­le Mäch­te” und “Ver­stan­des­grün­de”, lie­ße sich auch dort von Marx man­ches ler­nen. Aber dazu müß­te man es schaf­fen, sich von den Front­stel­lun­gen des 19. und frü­hen 20. Jahr­hun­derts zu eman­zi­pie­ren und die heu­ti­ge Lage wahr­haft zu beden­ken. Von einem “Pri­vat­pö­bel” aller­dings oder einem medi­al repro­du­zier­ten “poli­ti­schen Aber­glau­ben” ist das wohl nicht mehr zu erwarten.

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