70. Geburtstag Hans Peter Duerr

(Text aus dem Band Vordenker des Staatspolitischen Handbuchs, Schnellroda 2012.)

von Thomas Bargatzky

Duerr ist ein deutscher Ethnologe. Er studierte in Wien und Heidelberg Ethnologie, Philosophie und Soziologie, promovierte 1971 im Fach Philosophie an der Universität Heidelberg und habilitierte sich 1981 an der Gesamthochschule Kassel, ebenfalls in Philosophie.

Nach Lehr­auf­trä­gen ab 1975 an der Uni­ver­si­tät Zürich war er von 1992 bis 1999 Pro­fes­sor für Eth­no­lo­gie und Kul­tur­ge­schich­te an der Uni­ver­si­tät Bre­men. 1990 war er Fel­low am Wis­sen­schafts­kol­leg zu Ber­lin und 1995/96 an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Florenz.

Daß Duerr im Fach Phi­lo­so­phie sowohl pro­mo­vier­te als sich auch habi­li­tier­te, obwohl er sich immer als Eth­no­lo­ge betrach­te­te, ist der Nie­der­schlag sei­ner gro­ßen mensch­li­chen und intel­lek­tu­el­len Eigen­stän­dig­keit, die sich nicht in vor­ge­ge­be­ne, auch aka­de­mi­sche, Kli­schees fügt. Duerr läßt sich nicht unter die Kate­go­rien »rechts« oder »links« ein­ord­nen. So zog ihn zunächst eher das Anar­chis­ti­sche an, daher rührt sei­ne Affi­ni­tät zur Eth­no­lo­gie, die sich ja mit tra­di­tio­nel­len »Gemein­schaf­ten« ohne for­ma­lem Herr­schafts­ap­pa­rat beschäftigte.

Als jun­ger Wis­sen­schaft­ler stand er nach eige­nem Bekun­den zwar auch ein­mal links, alles dok­tri­när Ver­eng­te, sowie spä­ter auch die Ideo­lo­gie der Poli­ti­cal Cor­rect­ness, ist Duerr jedoch wesens­fremd. So wur­de ihm sei­tens lin­ker Eth­no­lo­gen die Bezie­hung zu dem wegen sei­ner natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­gan­gen­heit belas­te­ten Wer­ner Mül­ler vor­ge­wor­fen. Duerr lehn­te es jedoch stets ab, den Kon­takt zu Men­schen, für die er Sym­pa­thie emp­fin­det, auf­grund von unter­schied­li­chen poli­ti­schen Ansich­ten abzu­bre­chen. Daher trat er auch nicht in den SDS (Sozia­lis­ti­scher Deut­scher Stu­den­ten­bund) ein, sei­ner­zeit die Kader­schmie­de der uni­ver­si­tä­ren dok­tri­nä­ren Lin­ken. – U. a. sei­ne Ableh­nung des insti­tu­tio­na­li­sier­ten Femi­nis­mus an der Uni­ver­si­tät Bre­men führ­te letzt­lich zu sei­ner Ver­ab­schie­dung in den vor­zei­ti­gen Ruhestand.

Duerrs Werk Traum­zeit (1978) erlang­te schon bald den Sta­tus eines Kult­buchs und war auch ein gro­ßer Ver­kaufs­er­folg. Lei­der beruht die­ser Erfolg teil­wei­se auf einem Miß­ver­ständ­nis, denn das Buch fiel in die Hoch­zeit der New-Age-Ideo­lo­gie, und es waren oft die Beschrei­bun­gen der Wir­kung bewußt­seins­ver­än­dern­der Dro­gen, die dem Buch Leser­schaft zuführ­te. Sowohl von den Für­spre­chern und erst recht sei­tens der uni­ver­si­tär eta­blier­ten Eth­no­lo­gen­schaft wur­de jedoch oft über­se­hen, daß die­ses Werk eine umfas­sen­de und vor allem metho­disch gründ­li­che eth­no­lo­gisch- phi­lo­so­phi­sche Unter­su­chung vor­mo­der­ner Welt­erklä­rung vor dem Hin­ter­grund einer nicht­car­te­sia­ni­schen bzw. mythi­schen Onto­lo­gie ist. Damals begann die aka­de­mi­sche deut­sche Eth­no­lo­gie, sich von einer ernst­haf­ten Unter­su­chung des Mythos abzu­wen­den, um als Hilfs­wis­sen­schaft der Ent­wick­lungs­so­zio­lo­gie die lan­ge ersehn­te »gesell­schaft­li­che Rele­vanz« zu gewin­nen, so daß der­zeit noch nicht gesagt wer­den kann, ob Traum­zeit eine län­ger­fris­tig prä­gen­de Wir­kung auf die Fremd­kul­tur­for­schung ausübt.

Anders steht es um Duerrs Haupt­werk, den fünf­bän­di­gen monu­men­ta­len Zyklus Der Mythos vom Zivi­li­sa­ti­ons­pro­zeß (1988–2002), sei­ne umfas­sen­de Kri­tik an Nor­bert Eli­as’ The­se, daß im Ver­lauf des letz­ten hal­ben Jahr­tau­sends der Trieb­haus­halt der Euro­pä­er in zuneh­men­dem Maße domes­ti­ziert wor­den sei. Nach­dem die Euro­pä­er sich zivi­li­siert hät­ten, bezo­gen sie auch die »Pri­mi­ti­ven« in den Zivi­li­sie­rungs­pro­zeß ein. Duerr legt jedoch dar, daß die »ani­ma­li­sche Natur« der Men­schen der Anti­ke, des Mit­tel­al­ters und der soge­nann­ten »pri­mi­ti­ven« Gesell­schaf­ten kei­nes­wegs weni­ger domes­ti­ziert war und ist als jene des moder­nen Men­schen. Scham­ge­fühl ist eine trans­kul­tu­rel­le Uni­ver­sa­lie. Duerr deckt die dop­pel­te Funk­ti­on der Eli­as­schen Zivi­li­sa­ti­ons­theo­rie auf: Einer­seits dien­te sie der Recht­fer­ti­gung der »zivi­li­sie­ren­den Mis­si­on« Euro­pas, ande­rer­seits konn­te sie durch die ima­gi­nä­re Kon­trast­fo­lie der frem­den Kul­tu­ren als Vehi­kel der Kri­tik an der eige­nen west­li­chen Kul­tur instru­men­ta­li­siert werden.

Trotz der bis heu­te getra­ge­nen – mitt­ler­wei­le weiß gewor­de­nen – schul­ter­lan­gen Haa­re kommt der hoch­ge­bil­de­te drei­fa­che Fami­li­en­va­ter Duerr, der sich zu sei­ner kur­pfäl­zi­schen Her­kunft bekennt, von der Moder­ne kei­ne hohe Mei­nung hat, den­noch vom Spie­gel ger­ne inter­viewt wird, im per­sön­li­chen Umgang ange­nehm und unprä­ten­ti­ös ist und lie­ber in die Knei­pe als zur Kon­fe­renz geht, in Habi­tus und Werk dem Bild des gerad­li­ni­gen, geis­tig unab­hän­gi­gen Pri­vat­ge­lehr­ten nahe, für den es im heu­ti­gen Wis­sen­schafts­be­trieb an der Gre­mi­en­uni­ver­si­tät kei­nen Platz mehr gibt. Er ist das »Mus­ter eines Gelehr­ten«, wie ein­mal ein Rezen­sent schrieb, und »der klas­si­sche Kon­ser­va­ti­ve, der inzwi­schen so obso­let gewor­den ist, daß er gleich wie­der die Speer­spit­ze der Avant­gar­de bildet«.

Duerr, der die Idee einer nütz­li­chen Eth­no­lo­gie, die sich heu­te im Zeit­al­ter der Dritt­mit­te­lein­wer­bung an den Lehr­stüh­len weit­ge­hend durch­ge­setzt hat, »grau­en­haft« fin­det, legt auch mit sei­nem übri­gen Werk Zeug­nis von der not­wen­di­gen Unzeit­ge­mäß­heit von Wis­sen­schaft ab, etwa mit sei­nen For­schun­gen über die unter­ge­gan­ge­ne Stadt Rung­holt im nord­frie­si­schen Watt (2005) oder über die Spu­ren einer Fahrt der Minoer in die Nord­see vor etwa 3300 Jah­ren (2011).

Schrif­ten: Ni Dieu – ni mèt­re. Anar­chi­sche Bemer­kun­gen zur Bewußt­seins- und Erkennt­nis­theo­rie, Frank­furt a. M. 1974; Traum­zeit. Über die Gren­zen zwi­schen Wild­nis und Zivi­li­sa­ti­on, Frank­furt a. M. 1978; Sedna oder die Lie­be zum Leben, Frank­furt a. M. 1984; Der Mythos vom Zivi­li­sa­ti­ons­pro­zeß (5 Bde.), Frank­fur­ta. M. 1988–2002; Rung­holt. Die Suche nach einer ver­sun­ke­nen Stadt, Ber­lin 2005; Die Fahrt der Argo­nau­ten, Ber­lin 2011.

Lite­ra­tur: Ken­neth Anders: Die unver­meid­li­che Uni­ver­sal­ge­schich­te. Stu­di­en über Nor­bert Eli­as und das Teleo­lo­gie­pro­blem, Opla­den 2000; Inter­view in der Rei­he »Inter­views with Ger­man Anthro­po­lo­gists«, durch­ge­führt von Die­ter Hal­ler, 9. 8. 2009 (www. germananthropology.de).

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