45. Todestag Alexandre Kojève

(Text aus dem Band Vordenker des Staatspolitischen Handbuchs, Schnellroda 2012.)

von Harald Seubert

Alexandre Kojève kam als russischer Immigrant im Jahr 1920 nach Deutschland. Er studierte in Berlin und Heidelberg europäische und fernöstliche Philosophie. Bei Karl Jaspers wurde er im Jahr 1931 mit einer Untersuchung über den russischen Religionsphilosophen Wladimir Solowjew promoviert.

Von 1933 bis 1939 hielt er am Col­lè­ge de France den legen­dä­ren Vor­le­sungs­zy­klus über Hegels Phä­no­me­no­lo­gie des Geis­tes, der ihn berühmt machen sollte.

Er über­nahm die­se Vor­le­sungs­tä­tig­keit von dem Wis­sen­schafts­phi­lo­so­phen Alex­and­re Koy­ré, der zunächst über Hegels Reli­gi­ons­phi­lo­so­phie gelehrt hat­te. Der kai­ros für die­se Vor­le­sun­gen war ein­zig­ar­tig: Hegels frü­hes Haupt­werk war sei­ner­zeit nicht ins Fran­zö­si­sche über­setzt und die Kennt­nis Hegel­schen Geschichts­den­kens mar­kier­te in einer durch mathe­ma­ti­sche Demons­tra­ti­ons­idea­le, Car­te­sia­nis­mus und neu­er­dings Neu­kan­ti­a­nis­mus gepräg­ten phi­lo­so­phi­schen Land­schaft eine unge­heu­re Zäsur, die im Leben vie­ler von Kojè­ves eins­ti­gen Hörern Epo­che machen soll­te. Dar­un­ter waren Ray­mond Aron, Geor­ges Batail­le, Pierre Klos­sow­ski, Jac­ques Lacan, Mau­rice Mer­leau- Pon­ty, Ray­mond Que­neau und der spä­te­re maß­geb­li­che fran­zö­si­sche Hegel- For­scher Eric Weil.

Que­neau edier­te 1947 die Nach­schrif­ten unter dem Titel Intro­duc­tion à la lec­tu­re de Hegel (die deut­sche, gekürz­te Ver­si­on Hegel. Eine Ver­ge­gen­wär­ti­gung sei­nes Den­kens erschien in einer Über­set­zung Iring Fet­schers). Es ist unver­kenn­bar, daß Kojè­ve Hegel in einer apo­ka­lyp­ti­schen, zugleich von Heid­eg­gers Exis­tenz­den­ken inspi­rier­ten Blick­rich­tung liest. Zen­trum sei­ner Deu­tung ist das Herr-Knecht-Kapi­tel, also Hegels Dia­lek­tik des Kamp­fes um Aner­ken­nung. In der sinn­li­chen Gewiß­heit, der Wahr­neh­mung und dem Ver­stand bezieht sich der Geist pas­siv betrach­tend auf sei­nen Gegen­stand selbst. Die­se Bewußt­seins­for­men gehen damit dem Selbst­be­wußt­sein vor­aus. Auch (ani­ma­li­sche) Begier­de, die sich dar­auf rich­tet, Gegen­stän­de in ihre Ver­fü­gung zu brin­gen, führt nicht zu dem Erwa­chen von Selbst­be­wußt­sein. Dies geschieht erst, wo sich die eige­ne Begier­de auf eine ande­re Begier­de rich­tet – ein Nicht­sei­en­des – und sich an ihr bricht. Damit aber ist, wie Kojè­ve zeigt, zugleich der Über­gang in Geschichts- und Macht­ver­hält­nis­se verbunden.

Der Kampf um Aner­ken­nung ist Kampf auf Leben und Tod. In ihm zeigt sich mit­hin eine dem Ver­hält­nis von Freund und Feind im Sin­ne Carl Schmitts ver­wand­te Struk­tur. Wenn der Kampf mit dem Tod bei­der Prot­ago­nis­ten endet, so bleibt die Aner­ken­nung aus, eben­so wenn einer der Prot­ago­nis­ten zurück­bleibt. Denn Aner­ken­nung kann nur von einem eigen­stän­di­gen, leben­di­gen ande­ren aus­ge­hen. Es bleibt die Mög­lich­keit der Unter­wer­fung – der Situ­ie­rung des asym­me­tri­schen Ver­hält­nis­ses von Herr und Knecht. Das unter­joch­te Selbst­be­wußt­sein ist eo ipso nicht gleich­ran­gig, so daß der Herr am Knecht nicht er selbst wer­den kann. Er redu­ziert sich auf den Genuß der Welt. Um so grö­ßer wird sei­ne Abhän­gig­keit vom Knecht, der damit zum Selbst­be­wußt­sein gelangt und sich gegen sei­nen Herrn rich­ten kann. Dies ist für Kojè­ve die geis­ti­ge Grund­si­tua­ti­on der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on, deren Idee, eine Gesell­schaft frei­er, ein­an­der wech­sel­sei­tig aner­ken­nen­der Bür­ger, zugleich das Ende der Geschich­te bezeich­net, aber durch Napo­le­on rea­li­siert und voll­streckt wurde.

Mit Napo­le­on, so Kojè­ve, tritt die Welt in einen nach­his­to­ri­schen, welt­staat­li­chen Zustand ein. Die gro­ßen ideo­lo­gi­schen Kämp­fe des 20. Jahr­hun­derts sieht er nicht nur in dem Streit zwi­schen Links- und Rechts­he­ge­lia­nern vor­ge­zeich­net. Sie sind über­dies Nach­be­ben die­ses Endes, wenn­gleich Kojè­ve in der Zeit der gro­ßen Säu­be­run­gen kurz­zei­tig Sta­lin den welt­his­to­ri­schen Rang hat­te zuer­ken­nen wol­len, den Hegel in Napo­le­on sah. Mit­hin ist auch Fran­cis Fuku­ya­mas The­se vom »Ende der Geschich­te «, for­mu­liert nach dem Ende der Ost-West-Aus­ein­an­der­set­zung, nichts ande­res als eine arbi­trär libe­ra­le Rea­li­sie­rung der Kojè­ve­schen Hegel-Interpretation.

Offen­sicht­lich ist die­se Hegel-Deu­tung eben­so ein­fluß­reich wie ver­kür­zend: weder die Tek­to­nik des Objek­ti­ven Geis­tes (Recht-Mora­li­tät-Sitt­lich­keit mit dem Staat als Schluß­punkt) noch erst recht der abso­lu­te Geist spie­len dar­in eine maß­geb­li­che Rol­le. Kojè­ve unter­nimmt es viel­mehr, mit Hegel die Situa­ti­on des 20. Jahr­hun­derts zu deu­ten. Mit der Geschich­te endet für Kojè­ve auch die eigen­stän­di­ge Phi­lo­so­phie, die Mög­lich­keit der Rede, die Neu­es sagt. Man tritt, ähn­lich wie in Geh­lens Dia­gno­se, in einen post­his­to­ri­schen Zustand ein – und es blei­ben nur mehr zwei Arten von Sno­bis­mus, der des ani­ma­li­schen »ame­ri­can way of life« und der eli­tä­re des Selbst­op­fers im Hara­ki­ri der Samu­rai. Kojè­ve folg­te die­ser Dia­gno­se auch in sei­ner Exis­tenz: Er zog sich aus der Phi­lo­so­phie zurück und wirk­te bis zu sei­nem Tod als hoch­ran­gi­ger Ver­wal­tungs­be­am­ter des fran­zö­si­schen Wirt­schafts- und Finanz­mi­nis­te­ri­ums für die OECD.

Bereits 1951 hat­te ihm Ray­mond Que­neau in dem Schlüs­sel­ro­man Der Sonn­tag des Lebens ein Denk­mal gesetzt. Das Kojè­ve­sche Alter ego denkt »im all­ge­mei­nen an Nichts, wenn aber doch, am liebs­ten an die Schlacht von Jena«. Nach­ge­las­se­ne Arbei­ten, dar­un­ter ein drei­bän­di­ger Groß­essay, Essai d’une his­toire rai­son­née de la phi­lo­so­phie paï­en­ne (1966–1974), und eine Kant-Mono­gra­phie, sind nur Rah­mun­gen die­ser zen­tra­len, zugleich exis­ten­ti­ell beglau­big­ten Phi­lo­so­phie. Von ihr leg­te Kojè­ve ein Jahr vor sei­nem Tode noch ein­mal eine pro­vo­zie­ren­de Pro­be ab, indem er im Juni 1967 unmit­tel­bar vor Her­bert Mar­cu­ses beju­bel­tem Auf­tritt an der FU Ber­lin einen Vor­trag mit dem unver­fäng­lich aka­de­mi­schen Titel »Was ist Dia­lek­tik? Die Struk­tur der Rede« hielt und dar­in die Grund­the­se vom Ende der Geschich­te wiederholte.

Eher noch schla­gen­der ist es, daß Kojè­ve im Fokus der Pari­ser Mai-Unru­hen 1968 starb, als die The­se einer unver­än­der­bar kris­tal­li­sier­ten Geschich­te noch ein­mal durch Pra­xis wider­legt wer­den soll­te, fak­tisch indes nur bestä­tigt wurde.

Schrif­ten: Intro­duc­tion à la lec­tu­re de Hegel, Paris 1947; Essai d’une his­toire rai­son­née de la phi­lo­so­phie paï­en­ne, 3 Bde., Paris 1966, 1972, 1973; Kant, Paris 1973; Le con­cept, le temps et le dis­cours, Paris 1990; Esquis­se d’une phé­no­mé­no­lo­gie du droit (1943), Paris 1981; L’athéisme, Paris 1998; La noti­on de l’autorité (1942), Paris 2004; Über­le­bens­for­men, Ber­lin 2007.

Lite­ra­tur: Domi­ni­que Auf­fret: Alex­and­re Kojè­ve, Paris 1990; Vin­cent Des­com­bes: Das Sel­be und das Ande­re. 45 Jah­re Phi­lo­so­phie in Frank­reich 1933–1978, Frank­furt a. M. 1987; Gün­ther Rösch: Phi­lo­so­phie und Selbst­be­schrei­bung: Kojè­ve, Heid­eg­ger, Ber­lin 2010; Ulrich J. Schnei­der: Der fran­zö­si­sche Hegel, Ber­lin 2007.

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