Muschelnsammeln am Strand der Zeit (Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten, Folge 5)

Eines Tages werde ich eine "Apologie der Nostalgie" schreiben müssen.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Es ist mir gleich­gül­tig, ob man­che die Lie­be zur Ver­gan­gen­heit als Rea­li­täts­flucht oder “Rück­wärts­ge­wand­heit”  abtun. In einer Zeit, in der das “Aktu­el­le” im Ungeis­te des schnel­len Kon­sums hoch­fe­ti­schi­siert wird, erschei­nen mir der­glei­chen Ein­wän­de als witzlos.

Soll sich doch statt­des­sen ein­mal die Gegen­warts­be­ses­sen­heit recht­fer­ti­gen! Bis dahin darf man ihr getrost die Gefolg­schaft ver­wei­gern. Mehr noch: Gegen die “Total­herr­schaft der Gegen­wart” sind heu­te alle Mit­tel erlaubt. Und wer weiß nun, was für Träu­me für die Zukunft aus dem Blick in die Ver­gan­gen­heit gebo­ren wer­den? “The past is now part of my future, the pre­sence is well out of hand,” so san­gen einst Joy Divi­si­on.

Die­ser Blick hat wie der mythi­sche Janus­kopf zwei Rich­tun­gen: er stellt die Füße in den Fluß der Zeit, läßt ihr Was­ser um die Knö­chel spie­len, und erin­nert gleich­zei­tig dar­an, daß die­ser Fluß nie der­sel­be und doch der­sel­be ist:

Am Grun­de der Mol­dau wan­dern die Steine
Es lie­gen drei Kai­ser begra­ben in Prag.
Das Gro­ße bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.
Die Nacht hat zwölf Stun­den, dann kommt schon der Tag. 

“Nost­al­gie” kann vie­le Din­ge und Gemüts­zu­stän­de bedeu­ten. Idea­ler­wei­se ist sie wie ein Spa­zier­gang am Strand, an dem das Meer der Zeit Muscheln, bun­te Stei­ne und Unter­see­tie­re ange­schwemmt hat, die von einem ande­ren Leben in ande­ren Untie­fen von Raum und Zeit kün­den. So man­ches Hai­fisch­ge­biß ist dabei über­aus inter­es­sant und hübsch anzu­se­hen, wenn der Hai­fisch längst nicht mehr am Leben ist.

Drei sol­cher Muscheln habe ich letz­ten Sams­tag auf einem Sam­mel­strand par excel­lence, dem Floh­markt nahe der Wie­ner Ket­ten­brü­cken­gas­se, gleich gegen­über dem berühm­ten Nasch­markt auf­ge­le­sen. Die ers­te fand ich in einem Ramsch­kar­ton, der von einem tür­ki­schen Händ­ler ver­äu­ßert wur­de. Sie paß­te in mei­ne wach­sen­de Samm­lung der unge­zähl­ten Bücher über Chris­tus:  “Jesus von Naza­ret, wie wir ihn heu­te sehen”, von einem ver­ges­se­nen Theo­lo­gen namens Fried­rich Daab. “Heu­te” das bedeu­tet in die­sem Fall “vor über hun­dert Jah­ren”, gedruckt in Düs­sel­dorf Jah­re 1907, zum Preis vom 1,80 Mark. Ein­gangs schreibt der Ver­fas­ser sei­ne Recht­fer­ti­gung vor sei­nem dama­li­gen Heute:

Jesus, wie wir ihn heu­te sehen! Jesus und wir – was haben sie noch mit­ein­an­der zu schaf­fen: die Men­schen von heu­te und der Mann von damals? Ist nicht Jesus ganz eine Erschei­nung, die nir­gend mehr pas­sen will in uns­re Zeit, ja deren Wesen uns­rer Zeit im Wider­spruch steht, die uns fremd ist und wir ihr? Oder kommt das viel­leicht daher, weil er über die Gegen­wart hin­aus­ragt? Und statt zu sagen: Sie  ver­steht ihn nicht mehr – muß es hei­ßen: Sie ver­steht ihn noch nicht? Die Zeit muß erst wer­den und die Zukunft erst kom­men, die anfängt ihn zu begrei­fen, zu suchen, zu – verwirklichen!

Ich bot dem Tröd­ler einen Euro dafür an, er woll­te zwei, denn immer­hin hät­te das Buch ja ein­mal “180”  Wasauch­im­mer gekostet.

Ein paar Stän­de wei­ter fand ich ein stark ten­den­ziö­ses Buch über “25 Jah­re Kampf und Voll­endung” der Ufa, näm­lich seit der Über­nah­me des Film­kon­zerns durch den deutsch­na­tio­na­len Unter­neh­mer Alfred Hugen­berg im Jah­re 1927. Nur zwei Jah­re vor dem Unter­gang des Regimes blickt der lini­en­treu natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Autor Otto Herr­mann Kriegk tri­um­phie­rend auf das zurück, was “heu­te” in Deutsch­land alles über­wun­den sei: Libe­ra­lis­mus, “Nihi­lis­mus” und Demo­kra­tie, ame­ri­ka­ni­scher Kapi­ta­lis­mus und “jüdi­scher Bol­sche­wis­mus”. Nun schrei­te man “dank Adolf Hit­ler” in eine “bes­se­re Zukunft”, ver­pflich­tet zur “Bin­dung an das Schick­sal des Vol­kes und an den Fort­schritt der Menschheit”.

Fil­me der Wei­ma­rer Repu­blik wie “Metro­po­lis” (1927), des­sen emi­grier­ter Regis­seur Fritz Lang, einst des Füh­rers Favo­rit, der “dam­na­tio memo­riae” unter­wor­fen und nicht beim Namen genannt wird, wer­den einer schar­fen Kri­tik unter­zo­gen: alle sozia­len Pro­ble­me, die die­ses Mach­werk in einem kru­den, sen­ti­men­ta­len Brei auf­be­rei­tet hät­te, sei­en “heu­te” gelöst:

Wir haben den Sozia­lis­mus ent­deckt und sind auf die Quel­le aller sozia­len und wirt­schaft­li­chen Kon­flik­te gestos­sen. Wir sind heu­te zur Poli­tik als der Leh­re und der Erkennt­nis vom Schick­sal des Men­schen mit allen Ver­flech­tun­gen zwi­schen Ras­se und Blut und vie­len ande­ren Tat­sa­chen und Geset­zen durchgedrungen.

Deutsch­land und Ita­li­en stün­den als Avant­gar­de einer “Revo­lu­ti­on” vor den Völ­kern Euro­pas, die lei­der noch nicht auf die­ser Erkenn­nis­stu­fe ange­langt sei­en, zum Teil aus “Dumm­heit und Bos­heit”. Als die­ses Buch 1943 erschien, wan­der­ten jedoch schon die Stei­ne am Grun­de der Mol­dau. Die Schlacht von Sta­lin­grad besie­gel­te die Nie­der­la­ge der Wehr­macht in Ruß­land, und bereits im Juli 1943 stürz­te Mus­so­li­nis Regime.

Die letz­te Muschel, die ich von die­sem Floh­markt­gang mit­ge­nom­men habe, war nicht mate­ri­el­ler Natur. An einem wei­te­ren Bücher­stand griff ich mir ein paar Bän­de mit Gedich­ten von Josef Wein­he­ber her­aus. Der Tröd­ler war ein kau­zi­ger Typ, ein soge­nann­tes “Ori­gi­nal”, mit schloh­wei­ßem Haar und Backen­bart, dicken Bril­len, brei­tem, zum Teil von einer Kap­pe ver­deck­tem Gesicht und aus­la­den­dem Bauch. Zu fast jedem Buch, das er durch die Hän­de sei­ner Kun­den gehen sah, hat­te er eine klei­ne Anprei­sungs­re­de vorbereitet.

“Der Wein­he­ber”, hub er an, “ist neben Tra­kl einer der ganz weni­gen Dich­ter, die noch in hun­dert Jah­ren gele­sen wer­den. Vor allem was sei­ne wie­ne­ri­schen Gedich­te betrifft. Ande­re, wie der Wag­gerl gera­ten ja schon in Vergessenheit. ”

“Ja, das den­ke ich auch, daß Wein­he­ber blei­ben wird,” ant­wor­te­te ich.

“Er hat ja schreck­lich gebüßt dafür, daß ihn die Nazis so ver­ein­nahmt haben, er hat sich umge­bracht bei Kriegsende.”

“Tja, da war er nicht der ein­zi­ge, der so bit­ter bezahlt hat.”

“Dabei war er ja kein Täter, nicht? Vie­le Täter haben nicht bezahlt.”

“Dich­ter ver­ste­hen halt nix von Politik.”

Ich stö­ber­te wei­ter in der Kis­te, blät­ter­te in den Bän­den: “Wien wört­lich”, “Spä­te Kro­ne”, “Adel und Unter­gang”. Der Tröd­ler sah eine Wei­le zu, dann trat er einen Schritt an mich heran.

“Ich kann Ihnen ein Gedicht von Wein­he­ber auf­sa­gen. Wol­len Sie es hören?”

“Äh, ja, bitte.”

Er warf sich in Pose, blick­te mich aus den beschat­te­ten Augen sei­ner Kap­pe an, und sprach:

“Die­weil Dir Mond um Mond ent­glitt, ging einer wie ein Schat­ten mit – jahr­aus, jahr­ein und immer­zu, durch Mor­gen­tau und Abendruh.
Vom Kind zum Greis, wie ist so bald die Zeit dahin, das Wort ver­hallt, und alles fließt, und gar nichts bleibt.”

Nun war ich doch etwas ver­blüfft. Sei­ne Rezi­ta­ti­on war flie­ßend und offen­bar makel­los (das Gedicht war mir bis­her unbe­kannt). Ich starr­te auf sei­nen Mund und sei­ne Goldzähne.

“Die Frucht, die fällt, der Baum, der treibt, das Haus, der Turm, der Schmerz, das Glück, das geht hin­ab und sinkt zurück. Und end­lich ist’s mit Dir soweit, da war es nur ein Stäub­chen Zeit. Und eh Du es noch recht bedacht, so ist es schon für immer Nacht. Für immer Nacht ?”

Ich hielt den Atem an und spitz­te die Ohren, damit mir kein Wort ent­gin­ge. Er fuhr fort:

“Da stockst Du schon! Du kommst zurück in Dei­nem Sohn, der geht den Weg von Anfang an und tut die Werk, die Du getan und freut und fürch­tet, hofft und sinnt und gibt es wei­ter an sein Kind und hin­ter ihn mit lei­sem Schuh, jahr­aus, jahr­ein und immer­zu, die Uhr zur Hand, bereit zum Schnitt – geht einer wie ein Schat­ten mit.”

Das Gedicht war zu Ende. Eine Pausen­se­kun­de blick­ten wir uns schwei­gend an. Der Moment war erha­ben und komisch zugleich.

“Das ist nun wirk­lich selt­sam”, sag­te ich. “Die­ses Gedicht ent­spricht  haar­ge­nau mei­ner Tages­ver­fas­sung. Als hät­ten Sie’s erra­ten.” “Tjo!” sag­te er schul­ter­zu­ckend, und wand­te sich einer ande­ren Kun­din zu, um ihr einen Bild­band über die Hof­burg schmack­haft zu machen.

 Bild: panoramio.com

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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