Schlüsselereignisse der deutschen Geschichte

pdf der Druckfassung aus Sezession 32 /Oktober 2009

von Ulrich March

Der Begriff »Schlüsselereignis« wird im Folgenden ganz wörtlich verstanden: Wie der Schlüssel den Zugang zu einem Raum ermöglicht, eröffnet das Verständnis bestimmter maßgeblicher Vorgänge den Zugang zur Geschichte und gibt damit angesichts der engen Verzahnung von Vergangenheit und Gegenwart zugleich Aufschlüsse über heutige Regionen, Staaten, Völker und Kulturen.

Die Königs­wahl des frän­ki­schen Stam­mes­her­zogs Kon­rad ist das ers­te Schlüs­sel­er­eig­nis der deut­schen Geschich­te und für deren Ver­lauf von grund­le­gen­der Bedeu­tung. Denn als die ost­frän­ki­sche Linie der Karo­lin­ger mit dem Tod Lud­wigs des Kin­des aus­stirbt, stellt sich die poli­ti­sche Zukunft der Deut­schen als völ­lig offen dar, und erst der dar­auf fol­gen­de Wahl­akt gibt in mehr­fa­cher Hin­sicht die Rich­tung vor, in der sich der Gang der deut­schen Geschich­te seit­her bewegt.
Denk­bar erscheint damals die Bei­be­hal­tung der Karo­lin­ger­dy­nas­tie, die im West­fran­ken­reich noch bis 987 regiert, und die Wie­der­ver­ei­ni­gung der bei­den 843 getrenn­ten Reichs­tei­le. Doch die Karo­lin­ger haben seit dem Tod Karls des Gro­ßen viel von ihrem Glanz ver­lo­ren und sehen sich ins­be­son­de­re ab Mit­te des 9. Jahr­hun­derts nicht mehr in der Lage, die Teil­rei­che vor den immer hef­ti­ge­ren Angrif­fen der Nor­man­nen, Sla­wen, Ungarn und Sara­ze­nen zu schützen.
Die Regio­nal­ge­wal­ten dage­gen, von Karl dem Gro­ßen weit­ge­hend aus­ge­schal­tet, erle­ben im 9. Jahr­hun­dert eine Renais­sance. Da das König­tum den Schutz vor äuße­ren Fein­den nicht mehr gewähr­leis­tet, muß die Ver­tei­di­gung aus der Regi­on her­aus geführt wer­den, und die im Abwehr­kampf beson­ders bewähr­ten Fami­li­en über­neh­men in ihrem jewei­li­gen Stam­mes­ge­biet anstel­le des König­tums die tat­säch­li­che Macht.
Damit tut sich in der Ent­schei­dungs­si­tua­ti­on von 911 eine zwei­te Mög­lich­keit auf: die wei­te­re Erstar­kung der Stam­mes­ge­wal­ten. Die Stam­mes­her­zö­ge hät­ten es damals durch­aus in der Hand gehabt, ihre bereits vor­han­de­ne Macht zur völ­li­gen Unab­hän­gig­keit aus­zu­bau­en. Das hät­te zur Zer­split­te­rung des ost­frän­ki­schen Rei­ches und lang­fris­tig wohl auch zur eth­ni­schen Bal­ka­ni­sie­rung Mit­tel­eu­ro­pas geführt; da sich dann ver­mut­lich die ein­zel­nen Stäm­me zu Völ­kern ent­wi­ckelt hätten.
Die Stam­mes­her­zö­ge haben die­sen damals für sie gewiß ver­lo­cken­den Weg nicht beschrit­ten. Das Bewußt­sein deut­scher Zusam­men­ge­hö­rig­keit ist um die Wen­de zum zehn­ten Jahr­hun­dert offen­kun­dig bereits so stark ent­wi­ckelt, daß man sich für eine drit­te Lösung ent­schei­det: Die Stäm­me in ihrer Gesamt­heit begrün­den das neue deut­sche Gemeinwesen.
Damit ist ein Grund­ak­kord der gesam­ten deut­schen Geschich­te ange­schla­gen, das Neben‑, Mit- und Gegen­ein­an­der von Zen­tral- und Regio­nal­ge­walt. Der ers­te deut­sche König Kon­rad I. hat aller­dings unge­ach­tet der Umstän­de sei­ner Wahl noch ein­mal ver­sucht, zen­tra­lis­ti­sche Poli­tik im karo­lin­gi­schen Stil zu trei­ben, schei­tert dabei aber voll­stän­dig. Sei­ne größ­te Leis­tung besteht dar­in, daß er auf sei­nem Toten­bett sei­nen stärks­ten und ent­schie­dens­ten Geg­ner, Her­zog Hein­rich von Sach­sen, zu sei­nem Nach­fol­ger bestimmt – ein Akt mensch­li­cher Grö­ße und poli­ti­scher Weit­sicht zugleich. Denn der neue König, Hein­rich I., begnügt sich zunächst mit der nomi­nel­len Aner­ken­nung durch die übri­gen Stäm­me, schafft aber durch sei­ne Poli­tik der Beharr­lich­keit und des Augen­ma­ßes die Vor­aus­set­zun­gen für den Auf­stieg des Reiches.

Hein­richs Sohn Otto I. (936–973) gehört, wie schon im Namens­zu­satz »der Gro­ße« zum Aus­druck kommt, zu den bedeu­tends­ten Gestal­ten der deut­schen Geschich­te. Er ist es gewe­sen, der die bis Mit­te des 13. Jahr­hun­derts wäh­ren­de Vor­rang­stel­lung der Deut­schen in Euro­pa begrün­det und damit eine Zeit des Glan­zes her­auf­ge­führt hat, die Deutsch­land spä­ter nie wie­der erlebt hat. Zu sei­nen wesent­li­chen Leis­tun­gen zäh­len unter ande­rem die Ein­be­zie­hung des Elbe-Oder-Rau­mes und des größ­ten Teils Ita­li­ens in das deut­sche Herr­schafts­ge­biet, der Auf­bau einer trotz der Grö­ße des Rei­ches und der dama­li­gen Ver­kehrs­ver­hält­nis­se funk­tio­nie­ren­den Ver­wal­tung, die erfolg­rei­che Mar­ken- und Mis­si­ons­po­li­tik und die Sie­ge über Sla­wen und Ungarn, vor allem die Schlacht auf dem Lech­feld (955), in der erst­mals alle deut­schen Stäm­me gemein­sam kämp­fen und die gro­ße Tei­le Euro­pas von der Gei­ßel der stän­di­gen Ungarn-Ein­fäl­le befreit.
Ange­sichts die­ser Erfol­ge wird König Otto I. Anfang 962 als Nach­fol­ger der römi­schen Cäsa­ren und Karls des Gro­ßen in Rom vom Papst zum »römi­schen Kai­ser« gekrönt. Er steigt damit zum Haupt der abend­län­di­schen Chris­ten­heit auf, die Deut­schen wer­den nach den Römern und den Fran­ken zum »Reichs­volk«, dem in beson­de­rer Wei­se die Auf­ga­be zukommt, das Abend­land zu schüt­zen und zur Aus­brei­tung des christ­li­chen Glau­bens beizutragen.
Tat­säch­lich hat es in der Fol­ge­zeit immer wie­der Kai­ser gege­ben, die die­se Auf­ga­be sehr ernst genom­men und im Zusam­men­wir­ken mit ande­ren Herr­schern zu erfül­len gesucht haben. Noch Fried­rich Bar­ba­ros­sa (1152–1190) gehört dazu, der sei­ne Poli­tik unter die Paro­le »Honor Impe­rii! « stellt, in des­sen Umge­bung aller­dings die übri­gen Herr­scher Euro­pas abfäl­lig als »Zwerg­kö­ni­ge« (»regu­li«) bezeich­net werden.
Im reli­gi­ös bestimm­ten Mit­tel­al­ter haben der Reichs­ge­dan­ke und der Stolz auf die auf ihm beru­hen­de Vor­rang­stel­lung das Bewußt­sein der geis­ti­gen und poli­ti­schen Eli­te Deutsch­lands maß­geb­lich geprägt.
Die mit­tel­al­ter­li­che Kai­ser­zeit ist aber nicht nur eine Epo­che des Glan­zes und der Grö­ße. Die 962 über­nom­me­ne Auf­ga­be war von vorn­her­ein nur bei völ­li­gem Ein­ver­neh­men von Kai­ser und Papst lös­bar. Spä­tes­tens seit dem Inves­ti­tur­streit, bei dem es um die Bis­tums­be­set­zun­gen und damit um die Macht im Reich geht, und nach dem demü­ti­gen­den Buß­gang Kai­ser Hein­richs IV. nach Canos­sa (1077) ist die­ses Ein­ver­neh­men jedoch nicht mehr gege­ben. Da aber die Ver­wirk­li­chung des Reichs­ge­dan­kens die Herr­schaft über Rom und Ita­li­en vor­aus­setzt, muß die­se in zahl­lo­sen ver­lust­rei­chen Kämp­fen immer wie­der neu erstrit­ten wer­den, läßt sich aber trotz aller Opfer nur halb­wegs sichern, und auch das nur bis zum Ende der Stauferzeit.
Dem spä­te­ren Betrach­ter stellt sich damit eine Rei­he von Fra­gen. Hat das mit dem Reichs­ge­dan­ken ver­bun­de­ne inter­na­tio­na­le Enga­ge­ment die deut­schen Kräf­te nicht doch über­for­dert? Sind womög­lich bestimm­te »typisch deut­sche« Cha­rak­ter­merk­ma­le, etwa die Nei­gung zu idea­ler Über­hö­hung, Streit ums Grund­sätz­li­che (»que­rel­les alle­man­des«) und poli­tisch-ideo­lo­gi­scher Traum­tän­ze­rei (»Den Fran­zo­sen das Land, den Bri­ten das Meer, den Deut­schen die Wol­ken«) durch die Iden­ti­fi­ka­ti­on mit der Reichs­idee wenn nicht ver­ur­sacht, so doch beför­dert worden?

Dies alles ist wohl nicht völ­lig falsch gese­hen, führt aber auf das Feld der Spe­ku­la­ti­on. Fest steht dem­ge­gen­über, daß die Schwä­chung des Kai­sers den Dua­lis­mus zwi­schen Zen­tral- und Regio­nal­ge­walt för­der­te und im 16. Jahr­hun­dert ein zwei­ter, der Dua­lis­mus der Kon­fes­sio­nen, hin­zu­trat. Die Ver­brei­tung der 95 The­sen des Wit­ten­ber­ger Theo­lo­gie­pro­fes­sors Dr. Mar­tin Luther gegen den Ablaß­han­del wirkt wie ein Blitz in gewit­ter­schwü­ler Luft und löst land­auf, land­ab begeis­ter­te Zustim­mung aus, nicht wegen des Inhalts, son­dern weil es jemand gewagt hat, der Papst­kir­che die Stirn zu bieten.
Man hat die Refor­ma­ti­on als Anpas­sung des Chris­ten­tums an den Cha­rak­ter der ger­ma­ni­schen Völ­ker bezeich­net. In die­ser All­ge­mein­heit trifft das schon des­we­gen nicht zu, weil erheb­li­che Tei­le des deut­schen Vol­kes schließ­lich bei der alten Leh­re ver­blei­ben; vor allem Alt­bay­ern und Öster­reich, aber auch Main­fran­ken und Ober­schwa­ben sowie der größ­te Teil West­fa­lens und der Rhein­lan­de sind bis heu­te römisch-katho­lisch geprägt. Die Glau­bens­spal­tung hat viel Leid über das deut­sche Volk gebracht, Miß­trau­en und Haß, Ver­fol­gung und Gewalt­tä­tig­keit. Der kon­fes­sio­nel­le Dua­lis­mus hat aber auch viel Posi­ti­ves bewirkt, vor allem in der Geis­tes­ge­schich­te, aber auch in der poli­ti­schen Geschich­te der Deut­schen. Der Wett­be­werb der bei­den Glau­bens­rich­tun­gen zwingt dazu, die eige­ne Posi­ti­on zu über­den­ken, und führt zu Her­aus­for­de­rung und geis­ti­gem Austausch.
Aller­dings war die kon­fes­sio­nel­le Spal­tung auch die Ursa­che der gro­ßen Kata­stro­phe der deut­schen Geschich­te, des Drei­ßig­jäh­ri­gen Krie­ges. Bei sei­nem Ende ist das Land ver­wüs­tet, die Bevöl­ke­rung dezi­miert, die Wirt­schaft gelähmt, teil­wei­se – so etwa der Fern­han­del – ganz zusam­men­ge­bro­chen. Die Men­schen­ver­lus­te sind rela­tiv höher als im Zwei­ten Welt­krieg und betra­gen in den Städ­ten etwa 30 Pro­zent, auf dem Lan­de über 40 Pro­zent; in Tei­len Pom­merns, Meck­len­burgs und der Pfalz, also in den Durch­zugs­ge­bie­ten der schwe­di­schen und fran­zö­si­schen Hee­re errei­chen sie bis zu 90 Pro­zent. Sel­ten ist ein Schlüs­sel­er­eig­nis auch schon von den Zeit­ge­nos­sen so stark als sol­ches emp­fun­den wor­den wie der Frie­dens­schluß des Jah­res 1648. Was hat nun die­ser Frie­den gebracht?
Das Reich erscheint vor allem in ter­ri­to­ria­ler und ver­fas­sungs­po­li­ti­scher Hin­sicht stark geschwächt. Aus­ge­dehn­te Küs­ten­ge­bie­te gehen an Schwe­den, die noch deut­schen Tei­le Loth­rin­gens und fast das gesam­te Elsaß an Frank­reich ver­lo­ren, die Schweiz und die Nie­der­lan­de schei­den aus dem deut­schen Staats­ver­band aus. Die poli­ti­sche Zer­split­te­rung Deutsch­lands, die bereits im Hoch­mit­tel­al­ter ein­ge­setzt hat, kommt zu einem gewis­sen Abschluß: Die Ter­ri­to­ri­en erhal­ten nahe­zu unein­ge­schränk­te Sou­ve­rä­ni­tät. Das Reich besteht zwar wei­ter, hat aber in Zukunft mehr den Cha­rak­ter eines Staa­ten­bun­des als eines Staa­tes. Schwe­den und Frank­reich kön­nen sich als Garan­tie­mäch­te des Frie­dens fort­an jeder­zeit in die deut­schen Ver­hält­nis­se einmischen.
Und den­noch: Der West­fä­li­sche Frie­den ist kein blo­ßes Instru­ment zur Nie­der­hal­tung Deutsch­lands wie 1919 der Dik­tat­frie­den von Ver­sailles. Das 962 gegrün­de­te Reich mit sei­nem Hege­mo­nie­an­spruch auf dem Kon­ti­nent wird jetzt durch ein Sys­tem gleich­be­rech­tig­ter Mäch­te ersetzt. Zunächst tre­ten Frank­reich, Schwe­den und Öster­reich als Groß­mäch­te in Erschei­nung; vom 18. Jahr­hun­dert an bestimmt dann die euro­päi­sche Pen­t­archie – Frank­reich, Öster­reich, Ruß­land, Groß­bri­tan­ni­en, Preußen/Deutschland – weit­ge­hend die Geschi­cke des Kontinents.

Nach der Revo­lu­ti­on von 1789 erringt Frank­reich eine weit­ge­hen­de Vor­macht­stel­lung in Euro­pa und sprengt damit das Sys­tem von 1648. Es erscheint daher durch­aus logisch, daß der an allen Fron­ten sieg­rei­che Heer­füh­rer Napo­le­on zur Kai­ser­kro­ne greift. Die Völ­ker Euro­pas ertra­gen die fran­zö­si­sche Fremd­herr­schaft nur wider­wil­lig, und schließ­lich greift das Feu­er des moder­nen Natio­na­lis­mus, das die Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on ent­zün­det hat, auch auf die Völ­ker Euro­pas über. Weg­wei­send sind dabei Öster­reich und Preu­ßen. Bei­de Staa­ten erlei­den in die­ser Zeit ver­hee­ren­de Nie­der­la­gen. In bei­den Staa­ten aber lernt man aus den Nie­der­la­gen und berei­tet – getra­gen von dem neu­en Gedan­ken­gut – die Befrei­ung von der Fremd­herr­schaft vor.
Die har­te Behand­lung der Besieg­ten durch die Fran­zo­sen und die Roman­ti­sche Bewe­gung füh­ren in Deutsch­land zu patrio­ti­scher Besin­nung und zu einem neu­ar­ti­gen Ver­ständ­nis der Nati­on als einer kul­tu­rel­len Gemein­schaft, die sich auch poli­tisch behaup­ten will. Män­ner wie Fich­te und Gör­res, Schle­gel und Arndt ver­brei­ten die­se Ideen. Der Frei­herr vom Stein, Gnei­se­nau, Scharn­horst, Blü­cher, der Erz­her­zog Karl von Habs­burg und der öster­rei­chi­sche Regie­rungs­chef Graf Sta­di­on zie­hen dar­aus die poli­ti­schen Kon­se­quen­zen. Die Tiro­ler Erhe­bung von 1809 gegen Bay­ern und Fran­zo­sen zeigt eben­so wie der erfolg­rei­che Gue­ril­la­krieg der Spa­ni­er, daß der Frei­heits­ge­dan­ke in brei­te­re Volks­schich­ten ein­ge­drun­gen ist.
Als zukunfts­träch­tig erwei­sen sich spä­ter vor allem die preu­ßi­schen Refor­men, in denen ein aus­ge­wo­ge­nes Ver­hält­nis zwi­schen den Frei­heits­rech­ten des Ein­zel­nen und den Pflich­ten gegen­über der staat­li­chen Gemein­schaft zur Gel­tung kommt. Preu­ßen erkennt zum ers­ten Mal in sei­ner Geschich­te sei­ne natio­na­le Ver­ant­wor­tung und schafft mit der Hee­res­re­form eine wesent­li­che Vor­aus­set­zung für den mili­tä­ri­schen Erfolg in den Freiheitskriegen.
Der Zeit­punkt für eine all­ge­mei­ne Erhe­bung ergibt sich nach der ver­hee­ren­den Nie­der­la­ge der Gran­de Armée in Ruß­land. Trei­ben­de Kraft in dem 1813 aus­bre­chen­den Frei­heits­krieg ist Preu­ßen. Doch um Napo­le­on zu besie­gen, bedarf es der Anstren­gung nahe­zu aller euro­päi­scher Mäch­te, der Rus­sen, Preu­ßen, Öster­rei­cher und Schwe­den in der Völ­ker­schlacht von Leip­zig, der Preu­ßen und Bri­ten bei Water­loo. Damit ist die fran­zö­si­sche Hege­mo­nie besei­tigt, und der Wie­ner Kon­greß stellt das 1648 begrün­de­te Mäch­te­sys­tem wie­der her. Zur Ent­täu­schung der deut­schen Patrio­ten kommt es aber nicht zur Errich­tung eines deut­schen Nationalstaates.
Die Errich­tung eines Natio­nal­staats schei­tert um die Jahr­hun­dert­mit­te ein zwei­tes Mal, obwohl die ers­te frei gewähl­te deut­sche Natio­nal­ver­samm­lung, die im Mai 1848 in der Frank­fur­ter Pauls­kir­che zusam­men­tritt, es als ihre Haupt­auf­ga­be ansieht, ein frei­es und eini­ges Deutsch­land zu schaf­fen. Als hin­der­lich erwei­sen sich nicht nur die poli­ti­sche Uner­fah­ren­heit der Abge­ord­ne­ten und der Gegen­satz zwi­schen »Klein­deut­schen«, die ein Reich unter der Füh­rung Preu­ßens wol­len, und »Groß­deut­schen«, die Öster­reich mit ein­schlie­ßen möch­ten. Ent­schei­dend ist vor allem der Wider­stand nahe­zu des gesam­ten euro­päi­schen Auslands.

Der preu­ßi­sche Minis­ter­prä­si­dent Otto von Bis­marck hat aus dem Desas­ter der Pauls­kir­che gelernt und will nun die deut­sche Fra­ge mit »Blut und Eisen« lösen. Er berei­tet die drei Eini­gungs­krie­ge gegen Däne­mark (1864), Öster­reich (1866) und Frank­reich (1870/71) außen­po­li­tisch so gut vor, daß in kei­nem der Fäl­le eine drit­te Macht dem Geg­ner zur Sei­te springt. Am 18. Janu­ar 1871 wird dann im Schloß von Ver­sailles, das als Sym­bol fran­zö­si­scher Grö­ße gilt, das zwei­te Deut­sche Reich pro­kla­miert. Für die gro­ße Mehr­heit der Deut­schen erfüllt sich damit ein jahr­zehn­te­lan­ger Traum, auch wenn vie­le den Aus­schluß Öster­reichs bedau­ern, zu dem sich jedoch in der Fol­ge­zeit ein ver­trau­ens­vol­les poli­ti­sches Ver­hält­nis entwickelt.
Die Reichs­pro­kla­ma­ti­on in Ver­sailles, bei der König Wil­helm I. von Preu­ßen zum deut­schen Kai­ser aus­ge­ru­fen wird, fin­det noch wäh­rend des deutsch-fran­zö­si­schen Krie­ges in Front­nä­he statt; anwe­send sind neben allen deut­schen Fürs­ten auch die hohen mili­tä­ri­schen Füh­rer. Das Bis­marck-Reich wird daher und wegen der gro­ßen Bedeu­tung des Mili­tärs in der Fol­ge­zeit als mili­ta­ris­ti­scher Obrig­keits­staat kritisiert.
Die Ver­fas­sung von 1871 läuft aber in Wirk­lich­keit auf einen Kom­pro­miß zwi­schen kon­ser­va­ti­ven und pro­gres­si­ven, föde­ra­lis­ti­schen und zen­tra­lis­ti­schen Kräf­ten hin­aus. Zwar tritt das zwei­te Reich als »Fürs­ten­bund « in die Geschich­te ein, und das zunächst wich­tigs­te Ver­fas­sungs­or­gan ist der Bun­des­rat, die Ver­tre­tung der Län­der­re­gie­run­gen. Dane­ben aber gibt es den Reichs­tag, der nach damals moderns­tem Wahl­recht von der gesam­ten männ­li­chen Bevöl­ke­rung gewählt wird und im Lau­fe der Zeit immer stär­ker an Bedeu­tung gewinnt. Vom mili­tä­ri­schen Bereich abge­se­hen, kommt kein Gesetz ohne Reichs­tags­mehr­heit zustan­de. Die­ses demo­kra­ti­sche Ele­ment des 1871 gegrün­de­ten Rei­ches wird bis heu­te viel­fach ver­kannt. Das stän­dig zuneh­men­de Gewicht des Reichs­tags spricht jedoch dafür, daß sich die kon­sti­tu­tio­nel­le Mon­ar­chie von 1871 mit­tel­fris­tig zur par­la­men­ta­ri­schen ent­wi­ckelt hät­te, wenn der Ers­te Welt­krieg die­sen Pro­zeß nicht unter­bro­chen hätte.
Nach der Reichs­grün­dung betreibt Bis­marck eine mode­ra­te Außen­po­li­tik, die viel dazu bei­getra­gen hat, daß Euro­pa bis 1914 eine sei­ner längs­ten Frie­dens­epo­chen erleb­te. Nach sei­nem von Kai­ser Wil­helm II. erzwun­ge­nen Abgang ent­wi­ckelt die »zu spät gekom­me­ne Nati­on« aller­dings gewis­se Groß­manns­al­lü­ren, ohne frei­lich zu einer aggres­si­ven Außen­po­li­tik überzugehen.

Mit dem Kriegs­en­de und der Revo­lu­ti­on von 1918 geht das Kai­ser­reich zugrun­de. Nach­fol­ge­staat ist die Wei­ma­rer Repu­blik, die ers­te par­la­men­ta­ri­sche Demo­kra­tie der deut­schen Geschich­te. Sie ist von Anfang an schwer belas­tet durch die demü­ti­gen­den Bestim­mun­gen eines gna­den­lo­sen Dik­tat­frie­dens, den die Sie­ger ganz bewußt im Spie­gel­saal des Schlos­ses Ver­sailles unter­zeich­nen las­sen, am glei­chen Ort also, wo 1871 das deut­sche Kai­ser­reich pro­kla­miert wor­den ist. So demü­ti­gend die­ser Vor­gang von den Deut­schen wahr­ge­nom­men wur­de, er erscheint doch in einem mil­de­ren Licht, wenn man die Umstän­de bedenkt, unter denen die Wehr­machts­füh­rung am 7. und 9. Mai in Reims und in Ber­lin-Karls­horst die bedin­gungs­lo­se Gesamt­ka­pi­tu­la­ti­on unter­zeich­ne­te – das Schlüs­sel­er­eig­nis der neue­ren deut­schen Geschich­te, das die Epo­che des unter­ge­gan­ge­nen »Drit­ten Reichs« und die der Nach­kriegs­zeit mit­ein­an­der ver­klam­mert. Die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Dik­ta­tur stellt einen abso­lu­ten Aus­nah­me­fall der deut­schen Geschich­te dar und bedeu­tet in vie­ler­lei Hin­sicht den Bruch mit einer jahr­hun­der­te­lan­gen Ent­wick­lung. Das »Drit­te Reich« hat trotz die­ser Bezeich­nung mit dem ers­ten gar nichts, mit dem zwei­ten so gut wie nichts gemein­sam. Nicht nur die par­la­men­ta­ri­sche Demo­kra­tie, son­dern der in Jahr­hun­der­ten ent­wi­ckel­te Rechts­staat, sogar die über ein Jahr­tau­send alte föde­ra­le Staats­struk­tur wer­den abge­schafft. Aus der Ras­sen­ideo­lo­gie erwächst eine zuvor nicht für mög­lich gehal­te­ne Rebar­ba­ri­sie­rung im Umgang mit ande­ren Men­schen, bis hin zum mil­lio­nen­fa­chen Judenmord.
Bis Anfang des Jah­res 1938 zeich­net sich die Kata­stro­phe vom Mai 1945 noch nicht ab. Geblen­det von sei­nen außen‑, innen- und wirt­schafts­po­li­ti­schen Erfol­gen, geht jedoch Hit­ler von da ab wie ein Spie­ler immer grö­ße­re Risi­ken ein, bis hin zu einem Krieg, den die Wehr­macht spä­tes­tens seit 1942/43 nicht mehr gewin­nen kann, den die NS-Füh­rung aber gleich­wohl fort­setzt. In den Mona­ten zwi­schen dem geschei­ter­ten Atten­tat Stauf­fen­bergs vom 20. Juli 1944 und Mai 1945 ster­ben mehr Deut­sche als in den fünf Kriegs­jah­ren zuvor. Zu den Wehr­machts­to­ten (ins­ge­samt etwa 4,75 Mil­lio­nen) und den Bom­ben­to­ten (über eine hal­be Mil­li­on) kom­men jetzt noch die Opfer, die der Ein­marsch der Sie­ger, Flucht und Ver­trei­bung kos­ten (min­des­tens 2,5 Mil­lio­nen). Die weit­ge­hen­de Zer­stö­rung des Lan­des, der Ver­lust von einem Vier­tel des Sied­lungs­ge­biets, die völ­li­ge poli­ti­sche Hand­lungs­un­fä­hig­keit und die mit dem Erleb­ten ver­bun­de­ne Trau­ma­ti­sie­rung run­den das Bild der Kata­stro­phe ab.
Gleich nach der Kapi­tu­la­ti­on im Mai 1945 beginnt die Zeit der Ent­na­zi­fi­zie­rung, der Per­sil­schei­ne und der Ree­du­ca­ti­on, aber auch die des Wie­der­auf­baus. In den West­zo­nen unter­stüt­zen vor allem die Ame­ri­ka­ner die deut­schen Bemü­hun­gen, da sie nach dem Zer­fall der Sie­ger­ko­ali­ti­on ihr Herr­schafts­ge­biet gegen­über dem expan­si­ven Kom­mu­nis­mus sta­bi­li­sie­ren wol­len. Die unmit­tel­ba­re Nach­kriegs­zeit ist noch durch Hun­ger, Rui­nen und Flücht­lings­elend, im Osten über­dies durch sowje­ti­sche Will­kür bestimmt. Mit der Wäh­rungs­re­form von 1948 beginnt im Wes­ten jedoch nur drei Jah­re nach der Kapi­tu­la­ti­on ein atem­be­rau­ben­der wirt­schaft­li­cher Wie­der­auf­stieg. Zugleich gelingt es, über zwölf Mil­lio­nen Ver­trie­be­ne – poten­ti­el­les sozia­les Dyna­mit – ein­zu­glie­dern. Die­se his­to­ri­schen Leis­tun­gen dür­fen aber nicht dar­über hin­weg­täu­schen, daß bei­de Tei­le Deutsch­lands poli­tisch von den Welt­mäch­ten abhän­gig blei­ben. Auch Jah­re nach dem Zusam­men­tritt des ers­ten Bun­des­ta­ges im Herbst 1949 ist die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land auch offi­zi­ell noch nicht sou­ve­rän, von der wenig spä­ter gegrün­de­ten DDR ganz zu schweigen.

Die Wie­der­ver­ei­ni­gung stellt in natio­nal­ge­schicht­li­cher Sicht nicht nur das bedeu­tends­te, son­dern auch das erfreu­lichs­te Schlüs­sel­er­eig­nis der zwei­ten Hälf­te des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts dar. Es gibt wohl kaum einen erwach­se­nen Deut­schen, dem die Bil­der vom Mau­er­fall und von der Eini­gungs­fei­er am Reichs­tag nicht vor Augen ste­hen. Wie­der ein­mal eröff­net sich damals – wie bei der ers­ten Ver­ei­ni­gung von 911, wie 1813/15 oder 1870/71 – die Per­spek­ti­ve eines Neu­be­ginns. Wie haben die Deut­schen die­se Chan­ce genutzt?
Im Abstand von zwei Jahr­zehn­ten fällt die Bilanz gemischt aus. Sicher: Der gewalt­lo­se Sturz eines dik­ta­to­ri­schen Regimes und die fried­li­che Ver­ei­ni­gung bei­der deut­scher Staa­ten unter Zustim­mung – wenn auch teil­wei­se nur zäh­ne­knir­schen­der Zustim­mung – aller Nach­barn hat vie­le posi­ti­ve Kräf­te geweckt. Der Mut, mit dem Hun­dert­tau­sen­de unter per­sön­li­cher Gefahr auf die Stra­ße gehen, nötigt noch nach zwan­zig Jah­ren Respekt ab, denn das DDR-Regime ist grund­sätz­lich bereit, auf sei­ne Bür­ger schie­ßen zu lassen.
Aus den Trüm­mern von 1945 ist dank der Ereig­nis­se von 1989/90 eini­ges geret­tet wor­den. Immer­hin leben die Deut­schen heu­te wie­der in einem gemein­sa­men Staats­ver­band auf dem ver­blie­be­nen Rest­are­al, dem kleins­ten ihrer Geschich­te. Sie leben über­dies – auch das ist ein Novum – in Frie­den mit sämt­li­chen Nach­barn und Groß­mäch­ten, von gele­gent­li­chen pol­ni­schen oder tsche­chi­schen Irri­ta­tio­nen abge­se­hen. Und Deutsch­land hat als mit Abstand größ­ter Glied­staat der Euro­päi­schen Uni­on die Mög­lich­keit, eine ange­mes­se­ne Rol­le im zusam­men­wach­sen­den Euro­pa zu spie­len. Die geo­gra­phi­sche Lage inmit­ten des Kon­ti­nents, häu­fig genug Vor­aus­set­zung gefähr­li­cher Zwei-Fron­ten-Bedro­hung, könn­te sich dabei län­ger­fris­tig als gro­ßer Gewinn erweisen.
Ande­rer­seits sind kei­nes­wegs alle Blü­ten­träu­me von 1989/90 gereift. Die wirt­schaft­li­che Lage in den neu­en Bun­des­län­dern ist, von eini­gen Aus­nah­me­re­gio­nen abge­se­hen, immer noch unbe­frie­di­gend; von der gegen­wär­ti­gen Kri­se ist die­ser Lan­des­teil beson­ders betrof­fen. Das poli­ti­sche Ideen­gut eines Regimes, von dem man glaub­te, es habe rest­los abge­wirt­schaf­tet, ist immer noch viru­lent. Die demo­gra­phi­sche Situa­ti­on stellt sich inzwi­schen als äußerst besorg­nis­er­re­gend dar: Die Gebur­ten­zahl ist die gerings­te aller EU-Län­der, und wach­sen­de Tei­le der hier leben­den Bevöl­ke­rung wol­len sich nicht als Deut­sche betrach­tet wis­sen. Vor allem aber ist das poli­tisch-psy­cho­lo­gi­sche Trau­ma von 1945, wie der täg­li­che Blick in die Medi­en beweist, alles ande­re als überwunden.
Die his­to­ri­sche Betrach­tung der Lage legt jedoch Gelas­sen­heit nahe. Wie der Über­blick über die Schlüs­sel­er­eig­nis­se der deut­schen Geschich­te zeigt, hat die­ses Volk schon wie­der­holt aus­weg­los erschei­nen­de Situa­tio­nen erlebt. Stets hat sich frei­lich nach einer gewis­sen Zeit die Lage zum Bes­se­ren gewen­det. Dies bedeu­tet zwar kei­ne Garan­tie für die Zukunft, denn in der Geschich­te gibt es kei­ne Geset­ze. Man kann jedoch bestimm­te immer wie­der­keh­ren­de Ablauf­mus­ter erken­nen, so etwa die stän­di­ge Pen­del­be­we­gung zwi­schen Auf­stieg und Nie­der­gang, Glanz und Elend. Es ent­sprä­che durch­aus dem Aus­maß der Kata­stro­phe von 1945, wenn der Rück­schlag des Pen­dels dies­mal etwas län­ge­re Zeit in Anspruch nähme.

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